Computerimplementierte Simulationen und Designs – ein Vergleich der Rechtsprechung des EPA und der deutschen Gerichte
Entscheidung G1/19 der Großen Beschwerdekammer des EPA hat in jüngster Zeit zu einigem Aufruhr auf dem Gebiet der Patentierung von computerimplementierten Simulationen und darüber hinaus geführt. Wir vergleichen, wie computerimplementierte Erfindungen in Europa und Deutschland geschützt werden können.
Entscheidung G1/19 der Großen Beschwerdekammer des EPA
In der Entscheidung T1227/05 stellte die Beschwerdekammer 3.5.01 des Europäischen Patentamts (EPA) fest, dass eine computerimplementierte Simulation einer elektronischen Schaltung, die 1/f-Rauschen unterliegt, technischen Charakter hat. Im Jahr 2019 zeigte sich die Beschwerdekammer 3.5.07 mit der Begründung der Kammer in der – bis dahin allgemein anerkannten – Entscheidung T1227/05 nicht einverstanden. In der Vorlageentscheidung T0489/14 forderte die Kammer 3.5.07 strengere Mindestanforderungen für die Bestätigung des technischen Charakters einer Simulation (oder eines Designprozesses). Die Kammer 3.5.07 vertrat die Auffassung, dass eine technische Wirkung zumindest eine direkte Verbindung mit der physischen Realität erfordert, wie z. B. eine Änderung oder Messung einer physischen Einheit, was deutlich über die Erfordernisse der Entscheidung T1227/05 hinausgeht.
In ihrer Entscheidung zu den in der Vorlagenentscheidung T0489/14 aufgeworfenen Fragen hat die Große Beschwerdekammer nun entschieden, dass computerimplementierte numerische Simulationen und Designs eines Systems oder Prozesses nicht anders behandelt werden sollten als andere computerimplementierte Erfindungen. Die Große Beschwerdekammer weist damit die „Extremposition“ in der Vorlageentscheidung T0489/14 zurück. Auch wenn die Große Beschwerdekammer die Feststellungen in der früheren Entscheidung T1227/05 nicht vollständig verworfen hat, hat sie jedoch sehr explizit darauf hingewiesen, dass die Feststellungen in T1227/05 aufgrund der spezifischen Fakten des dieser Entscheidung zugrunde liegenden Falls nicht allgemein anwendbar seien und damit der Entscheidung T1227/05 ihren vormaligen „Leuchtturm-Character“ genommen.
Die Große Beschwerdekammer hält den „de-facto-Standard“ des EPA für die Beurteilung von Erfindungen, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale bestehen (der sogenannte COMVIK-Ansatz), auch für die Beurteilung computerimplementierter Simulationen für geeignet. Nach dem COMVIK-Ansatz ist die entscheidende Frage für die Beurteilung, welche Merkmale einer Simulation eines Systems oder Prozesses technische Merkmale darstellen und somit für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant sind, ob das Simulations- oder Designverfahren zur Lösung einer technischen Aufgabe beiträgt, indem es eine technische Wirkung erzeugt. Daher sind die technischen Überlegungen, die für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant sind, nur diejenigen technischen Überlegungen, die die Erfindung, d. h. die Simulation bzw. das Design der Vorrichtung oder des Verfahrens selbst und nicht das simulierte System oder Verfahren als solches, betreffen.
Unter Bezugnahme auf ihre frühere Entscheidung G3/08 räumt die Große Beschwerdekammer ein, dass eine Simulation notwendigerweise auf den Prinzipien/Grundlagen basiert, die dem simulierten System oder Prozess zugrunde liegen, und dass technische Überlegungen, die mit dem zu simulierenden System oder Prozess zusammenhängen, typischerweise die Grundlage für die gedankliche Tätigkeit der Definition des der Simulation zugrunde liegenden Modells der technischen Vorrichtung oder des Prozesses bilden. Die Große Beschwerdekammer ist jedoch der Auffassung, dass diese gedankliche Tätigkeit der Definition des der Simulation zugrunde liegenden Modells (und dessen Gleichungen/Algorithmen) keinen technischen Charakter aufweist, da die technischen Überlegungen, die bei der Definition des Modells verwendet werden, üblicherweise nicht in einer technischen Wirkung bei der Ausführung der Simulation resultieren. Wenn technische Überlegungen, die mit dem zu simulierenden System oder Prozess zusammenhängen, ausreichten, um der Simulation technischen Charakter zu verleihen, wären computerimplementierte Simulationen innerhalb des Gebiets der computerimplementierten Erfindungen bei der Beurteilung des technischen Charakters grundlos privilegiert.
In diesem Sinne ist die Große Beschwerdekammer auch der Auffassung, dass eine direkte Verbindung mit der (äußeren) physischen Realität, wie sie in der Entscheidung T0489/14 gefordert wird, keine Voraussetzung für die Bejahung eines technischen Charakters eines Simulations- oder Designprozesses darstellt, obwohl eine solche Verbindung in den meisten Fällen wahrscheinlich ausreichend wäre. Es wurde jedoch festgehalten, dass nur diejenigen technischen Wirkungen bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden sollten, die zumindest in den Ansprüchen impliziert sind. Denn wenn das beanspruchte Verfahren einen Satz numerischer Werte erzeugt, hängt die Frage, ob die erzeugten numerischen Werte der beanspruchten Erfindung einen technischen Charakter verleihen können, von der weiteren Verwendung der numerischen Werte ab.
Die Lehren aus G1/19
Die Feststellung der Großen Beschwerdekammer, dass computerimplementierte Simulationen und Designprozesse nicht anders zu behandeln sind als andere computerimplementierte Verfahren und die konsequente Anwendung des COMVIK-Ansatzes durch die Große Beschwerdekammer stellen eine erneute Bestätigung und Festigung der ständigen Rechtsprechung des EPA zu computerimplementierten Erfindungen dar. Die gute Nachricht für die Anmelder ist, dass die Große Beschwerdekammer dem strengeren Ansatz der Vorlageentscheidung T0489/14 nicht gefolgt ist. Jedoch bestätigte die Große Beschwerdekammer die insgesamt hohen Standards für die Beurteilung computerimplementierter Erfindungen, die von nun an auch für computerimplementierte Simulationen und Designprozesse gelten. Da Simulations- und Designprozesse oft so entwickelt werden, dass sie auf herkömmlicher Computerhardware laufen, wird es für Anmelder noch schwieriger, das Simulations- oder Designverfahren unabhängig von einer bestimmten und spezifischen technischen Eingabe oder Ausgabe oder einer implizierten Verwendung der Ergebnisse des Simulations- oder Designverfahrens, z. B. zur Steuerung einer Maschine oder zur Herstellung eines Produkts, zu beanspruchen und zu schützen.
Die Entscheidung „Logikverifikation“ des Bundesgerichtshofs
Die Entscheidung G1/19 verweist mehrfach auf die bereits ältere (Dezember 1999) Entscheidung „Logikverifikation“ des Bundesgerichtshofs. Letztere betrifft das Gebiet der Herstellung hochintegrierter Schaltungen.
In der der Entscheidung „Logikverifikation“ zugrunde liegenden Erfindung wird in einem ersten Schritt ein hierarchisch strukturiertes Logikdiagramm eines Chips entworfen. Anschließend wird in Abhängigkeit von diesem hierarchisch strukturierten Logikdiagramm ein physisches Layout des Chips entworfen. Das physische Layout des Chips definiert eine Belichtungsmaske, die für die eigentliche Chipherstellung verwendet wird. Dieser Designprozess wurde anspruchsgemäß nur teilweise von einer Maschine, d. h. einem Computer, ausgeführt. Daher ist der entscheidende Schritt im beanspruchten Designprozess (der der Entscheidung auch ihren Namen verleiht) die Verifikation der korrekten Umwandlung des hierarchisch strukturierten Logikdiagramms in das entsprechende physische Layout.
Zur Lösung des vorliegenden Problems lehrte und beanspruchte die Erfindung ein Verfahren zur hierarchischen Logik-Verifikation hochintegrierter Schaltungen, bei dem durch einen elektronischen Rechner eine mit Hilfe eines Extraktionsverfahrens aus dem physikalischen Layout der jeweiligen hochintegrierten Schaltung gewonnene hierarchische Layout-Schaltung mit einer durch einen Logikplan festgelegten hierarchischen Logikplan-Schaltung verglichen wird. Wenn das beanspruchte Vergleichsverfahren ergibt, dass die verglichenen Layouts einander entsprechen, gelten die Schaltungen als verifiziert. Basierend auf diesem Verifikationsergebnis können Siliziumchips hergestellt werden, die der gewünschten Spezifikation entsprechen. Im Patentanspruch wurde jedoch der Schritt der Herstellung eines Chips nicht erwähnt.
Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass (nicht direkt, sondern indirekt) eine Verbindung zur Herstellung von hochintegrierten Schaltungen existiert, da in nachfolgenden Schritten des integrierten Design- und Herstellungsprozesses die Masken und schließlich die integrierten Halbleiterschaltungen aus den verifizierten Layoutdaten erzeugt werden, die im Speicher der Datenverarbeitungsvorrichtung gespeichert sind.
Auf dieser Grundlage entschied der Bundesgerichtshof, dass sich die beanspruchte Erfindung auf einen Zwischenschritt in einem Prozess bezieht, der mit der Herstellung von Siliziumchips endet. Somit kann die beanspruchte Lehre verwendet werden, um sicherzustellen, dass der herzustellende Chip aus verifizierten Schaltungen besteht. Daher ist die Lehre gemäß dem beabsichtigten Zweck der beanspruchten Lehre Teil eines anerkannten Gebiets der Technik.
Rechtsprechung des Bundespatentgerichts
In Übereinstimmung mit den Entscheidungen 19 W (pat) 63/03, 19 W (pat) 314/05, 19 W (pat) 5/06, 21 W (pat) 46/07, 19 W (pat) 7/08 und 17 W (pat) 20/14 scheint es, dass Simulationen auf dem Gebiet der rechnergestützten numerischen Steuerung (Computerized Numerical Control – CNC) allgemein als technisch anerkannt werden. Dies ist daran zu erkennen, dass in diesen Entscheidungen die Frage des technischen Charakters überhaupt nicht in Frage gestellt wurde.
Das Bundespatentgericht hat jedoch bemerkenswerterweise in der Entscheidung 23 W (pat) 8/10 festgestellt, dass ein System zur Verkehrssimulation keinen technischen Beitrag leistete. Das Gericht stellte fest, dass das beanspruchte Simulationsprogramm Einblicke in die Auswirkungen von Straßendesignmaßnahmen auf den Verkehrsfluss gewähren und es den Benutzern ermöglichen würde, zu untersuchen, wie eine Verkehrsüberlastung verhindert werden kann. Das Gericht führte jedoch aus, dass die beanspruchte Lehre lediglich eine Planungshilfe sei und weder eine nach außen gerichtete Steuerungswirkung noch eine Überwachungswirkung habe.
Ferner wurde in der Entscheidung 17 W (pat) 26/06 des Bundespatentgerichts ein Verfahren zur Generierung einer hierarchischen Netzliste zur Simulation einer Schaltung mit mehreren elektronischen Komponenten als keinen technischen Beitrag leistend angesehen. Das Gericht argumentierte, dass der eigentliche Beitrag der beanspruchten Lehre darin bestehe, bereits verfügbare Informationen über Komponenten und Teilschaltungen so anzuordnen und zu vergleichen, dass mit Hilfe von Regeln in der Netzliste der Komponenten einzelne Teilschaltungen erkannt und durch Ersatzkomponenten ersetzt werden können, wobei der Prozess weitgehend durch einen Computer automatisiert wurde. Dies wurde als bloße Datenverarbeitung ohne technischen Beitrag angesehen.
Zusammenfassend scheint die Rechtsprechung des Bundespatentgerichts größtenteils mit der Entscheidung „Logikverifikation“ des Bundesgerichtshofs in Einklang zu stehen: Wenn ein anerkannter Bereich der Technik simuliert wird, kann die beanspruchte Simulation zum technischen Charakter der Erfindung beitragen. Andererseits wurden auch vom Bundespatentgericht abweichende Entscheidungen getroffen.
Wesentliche Unterschiede zwischen der EPA-Praxis und der deutschen Praxis
Der Bundesgerichtshof nimmt im Allgemeinen einen technischen Beitrag an, selbst wenn ein computerimplementiertes Simulationsverfahren nur einen Zwischenschritt eines Prozesses in einem anerkannten technischen Gebiet angibt. Im Gegensatz dazu fordert das EPA, dass technische Wirkungen nur dann bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden, wenn diese technischen Wirkungen durch den beanspruchten Gegenstand kausal erreicht oder zumindest impliziert werden. Dieser Unterschied erfordert zusätzlichen Aufwand und sorgfältige Überlegungen bei der Abfassung von Ansprüchen für computerimplementierte Erfindungen im Allgemeinen und insbesondere für Simulationen.
Auf dem Gebiet der computerimplementierten Simulationen hat sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Deutschland in den letzten Jahren im Wesentlichen an die von den Beschwerdekammern des EPA geprägte Rechtsprechung angepasst, die im Vergleich zu den jetzt in G 1/19 definierten Standards mehr Raum für die Patentierung solcher Erfindungen geschaffen hatte. Die Anmelder sollten daher die Anmeldung solcher Erfindungen in Deutschland zusätzlich zu oder anstelle einer Anmeldung beim EPA in Betracht ziehen.