Ein weiteres Kapitel der FRAND-Saga: Neue Vorlage an den Europäischen Gerichtshof
Die Reaktion auf das Urteil des Bundesgerichtshofs KZR 36/17 – FRAND – Einwand hat nicht lange auf sich warten lassen. Nachdem die Grundsätze dieser Entscheidung sowohl unter Anwälten wie auch unter Richtern kontrovers diskutiert worden waren, hat das Landgericht Düsseldorf die dort gestellten Anforderungen an die Lizenzwilligkeit eines Beklagten im Wege einer Vorlagentscheidung zur Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof gestellt. Gleichzeitig hat es die ebenfalls kontrovers diskutierte und von Gerichten unterschiedlich beurteilte Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob der Produzent eines Endprodukts im Patentverletzungprozeß den Einwand eines mißbräuchlichen Verhaltens des Inhabers eines für eine Norm essentiellen Patents erheben kann, wenn seinen Zulieferern eine Lizenz an dem Patent zu FRAND – Bedingungen verweigert wird. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird entscheidende Bedeutung für die Lizenzierungspraxis nicht nur in der Automobilbranche, sondern auch in allen Bereichen des IoT (Internet of Things) und der autonomen Systeme haben.
Nachdem mit der Entscheidung KZR 36/17 – FRAND-Einwand vom 5. Mai 2020 die zweite Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zu normessentiellen Patenten ergangen ist (wir berichteten im B&B Bulletin vom 27. August 2020), kommt nun wieder der Europäische Gerichtshof (EuGH) ins Spiel. Mit der Entscheidung 4c O 17/19 vom 26. November 2020 hat das Landgericht Düsseldorf dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die sich einerseits auf die bislang höchstrichterlich noch nicht entschiedene Frage beziehen, ob ein Unternehmen einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe sich zur Verteidigung im Verletzungsverfahren auf einen kartellrechtlichen Anspruch eines Zulieferers auf eine Lizenz zu FRAND – Bedingungen berufen kann, und andererseits auf die Überprüfung der vom Bundesgerichtshof in der Entscheidung KZR 36/17 aufgestellten Grundsätze gerichtet sind. Die Vorlage durch ein Landgericht ist ungewöhnlich, kommt aber nicht unerwartet, nachdem auch von Teilen der Richterschaft die zeitnahe Klärung der Frage gefordert wurde, ob die Entscheidung des Bundesgerichtshof mit den Grundsätzen der Entscheidung des EuGH C 170/13 – Huawei ./. ZTE vom 16. Juli 2015 vereinbar sei.
Gegenstand des Verfahrens vor dem Landgericht Düsseldorf war ein Patent, das für eine Norm des Mobilfunkstandards LTE essentiell war, die von dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) verwaltet wird. Die Anmelderin des Patents hatte gegenüber ETSI eine sogenannte FRAND – Erklärung abgegeben, mit der sie sich zur Erteilung von Lizenzen zu FRAND (Fair, Reasonable And Non-Discriminatory) – Bedingungen verpflichtete. Eine Besonderheit des Falls lag darin, dass die Beklagte, ein deutscher Automobilhersteller, sich darauf berief, dass ihren Zulieferern ein Anspruch auf eine Lizenz zustünde, die ihnen entgegen den Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts verweigert werde. Die Erfüllung dieses Anspruchs würde, so die Beklagte, zu einer Erschöpfung der Rechte aus dem Patent an den ihr zugelieferten Produkten führen, so dass sie in gleicher Weise wie die Zulieferer dem geltend gemachten Unterlassungsanspruch den Einwand des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung entgegensetzen könne.
Tatsächlich hatte die Klägerin den Zulieferern der Ebene 1, die unmittelbar an den Fahrzeughersteller (OEM) liefern, keine vollwertige eigene Lizenz angeboten, sondern nur ein Modell, dem zufolge dem OEM eine von dem Zulieferer bezahlte Lizenz mit dem Recht eingeräumt wird, die lizenzierten Produkte durch Dritte fertigen zu lassen, und dem Zulieferer eine eigenständige Lizenz im Wesentlichen nur für Zwecke der Forschung und Entwicklung eingeräumt wird. Die Zulieferer der vorgelagerten Ebene 2 erhielten mehrheitlich kein Lizenzangebot. Die Klägerin vertrat den Standpunkt, dass es ihr freistehe, auf welcher Ebene der Produktions- und Zulieferkette sie Lizenzen erteile, und eine vollwertige Lizenz an Zulieferer aufgrund einer marktbeherrschenden Stellung nicht geboten sei, so lange den einzelnen Ebenen der Zugang zu der normierten Technologie ermöglicht werde. Des Weiteren machte sie geltend, dass eine Lizenzierung auf einer vorgelagerten Produktionsstufe nicht zu einer Erschöpfung auf einer nachgelagerten Produktionsstufe führe.
Das Gericht legte zu dieser Thematik dem EuGH die folgenden Fragen vor:
- Kann ein Unternehmen einer nachgelagerten Wirtschaftsstufe der auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage des Inhabers eines Patents, das für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essentiell ist (SEP) und der sich gegenüber dieser Organisation unwiderruflich verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, den Einwand des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung i. S.v. Art. 102 AEUV entgegenhalten, wenn der Standard, für den das Klagepatent essentiell ist, bzw. Teile desselben bereits in einem von dem Verletzungsbeklagten bezogenen Vorprodukt implementiert wird, dessen lizenzwilligen Lieferanten der Patentinhaber die Erteilung einer eigenen unbeschränkten Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte verweigert?
- Erfordert es das kartellrechtliche Missbrauchsverbot, dass dem Zulieferer eine eigene, unbeschränkte Lizenz für alle patentrechtlich relevanten Nutzungsarten zu FRAND-Bedingungen für den Standard implementierende Produkte in dem Sinne erteilt wird, dass die Endvertreiber (und ggf. die vorgelagerten Abnehmer) ihrerseits keine eigene, separate Lizenz vom SEP-Inhaber mehr benötigen, um im Fall einer bestimmungsgemäßen Verwendung des betreffenden Zulieferteils eine Patentverletzung zu vermeiden?
- Sofern die Vorlagefrage zu 1. verneint wird: Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative, quantitative und/oder sonstige Anforderungen an diejenigen Kriterien, nach denen der Inhaber eines standardessentiellen Patents darüber entscheidet, welche potenziellen Patentverletzer unterschiedlicher Ebenen der gleichen Produktions- und Verwertungskette er mit einer auf Unterlassung gerichteten Patentverletzungsklage in Anspruch nimmt?
Die erste Frage ergänzte das Gericht durch die Zusatzfragen, ob insoweit die branchenübliche Praxis relevant ist, dass die Schutzrechtslage im Wege der Lizenznahme durch die Zulieferer geklärt wird, und ob ein Lizenzierungsvorrang gegenüber den Zulieferern auf jeder Stufe der Lieferkette oder nur gegenüber den Zulieferern der Ebene 1 besteht.
Das Landgericht Düsseldorf vertrat hierzu die Auffassung, dass die FRAND – Erklärung die Verpflichtung enthalte, jedem Interessierten und damit auch jedem Zulieferer eine Lizenz an der normierten Technik in einem solchen Umfang einzuräumen, dass ihm ein freier Wettbewerb auf allen von ihm derzeit und in Zukunft in Betracht gezogenen Produktmärkten ermöglicht werde. Dies lasse sich nur mit einer eigenen unbeschränkten Lizenz realisieren, nicht aber mit einem eingeschränkten, von den Automobilherstellern abgeleiteten Recht. Zwar führe auch eine unbeschränkte Lizenzierung nicht ohne weiteres zu einer Erschöpfung außerhalb der Europäischen Union oder im Falle von Verfahrensansprüchen. Da die FRAND – Erklärung aber den Zweck habe, jedermann eine faire und diskriminierungsfreie Teilhabe an der Verwertung der normierten Technik im Produktmarkt zu ermöglichen, müsse eine Lizenz zu FRAND – Bedingungen in entsprechenden Fällen geographisch unbegrenzt sein bzw. mit Hinblick auf Verfahrensansprüche eine bestimmungsgemäße Nutzung auch durch Abnehmer und damit faktisch eine Erschöpfung ermöglichen.
Ein Recht auf Lizenzierung auf der Ebene der Zulieferer entspreche nicht nur den Gepflogenheiten der Automobilbranche, sondern sei auch sachgerecht. Ein Automobilhersteller sei nur mit erheblichem Aufwand in der Lage, eine Verletzung etwa durch ein NAD (Network Access Device) oder gar einen für NAD benötigten Chips zu beurteilen. Umgekehrt investierten die Zulieferer erheblich in eigene Forschung und Entwicklung, um unabhängig von den OEM Innovationen zu schaffen, und benötigten mit Hinblick auf diese Investitionen wirtschaftlichen und rechtlichen Freiraum.
Eine Lizenzierung auf tieferen Ebenen der Produktionskette führe auch nicht zu einer Benachteiligung des Patentinhabers, da sich die Lizenzgebühr nicht nach dem Gewinn des jeweiligen Lizenznehmers richte, sondern nach dem Gewinn, der am Schluss der Verwertungskette mit dem Verkauf des patentgemäßen Endproduktes erwirtschaftet werde. Weitere von der Klägerin geltend gemachte Nachteile bei einer Lizenzierung auf Zuliefererebene ließen sich durch eine adäquate Vertragsgestaltung vermeiden.
In einem zweiten Fragenkomplex ging es um die Konkretisierung der Anforderungen aus der Entscheidung C 170/13 – Huawei ./. ZTE des EuGH. Insoweit stellte das Landgericht Düsseldorf die folgenden Fragen, die es durch auf konkrete Sachverhalte gerichtete Zusatzfragen ergänzt hat:
- Besteht ungeachtet dessen, dass die vom SEP-Inhaber und vom SEP-Benutzer wechselseitig vorzunehmenden Handlungspflichten (Verletzungsanzeige, Lizenzierungsbitte, FRAND-Lizenzangebot; Lizenzangebot an den vorrangig zu lizenzierenden Zulieferer) vorgerichtlich zu erfüllen sind, die Möglichkeit, Verhaltenspflichten, die im vorgerichtlichen Raum versäumt wurden, rechtswahrend im Laufe eines Gerichtsverfahrens nachzuholen?
- Kann von einer beachtlichen Lizenzierungsbitte des Patentbenutzers nur dann ausgegangen werden, wenn sich aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Begleitumstände klar und eindeutig der Wille und die Bereitschaft des SEP-Benutzers ergibt, mit dem SEP-Inhaber einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen abzuschließen, wie immer diese (mangels eines zu diesem Zeitpunkt formulierten Lizenzangebotes überhaupt noch nicht absehbaren) FRAND-Bedingungen aussehen mögen?
Bei der ersten Frage geht es im Wesentlichen darum, ob die Erklärung der Lizenzbereitschaft des angeblichen Verletzers bzw. ein FRAND-konformes Lizenzangebot des Klägers sich noch nach Klageerhebung nachholen lassen. Dies war zum Zeitpunkt der Entscheidung überwiegende Meinung, aber noch nicht abschließend geklärt. Der Bundesgerichtshof zeigt in der kürzlich veröffentlichten Entscheidung KZR 35/17 – FRAND – Einwand II vom 24. November 2020 eine Tendenz, diese Frage grundsätzlich zu bejahen. Diese Frage dürfte daher weniger kontrovers diskutiert werden. Bei der zweiten Frage geht es allerdings um die Anforderungen an die Lizenzierungsbitte bzw. das Verhalten des Lizenzsuchers nach dem Verletzungshinweis des Patentinhabers und damit um nicht weniger als eine Überprüfung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in diesem Punkt unter dem Gesichtspunkt des Gemeinschaftsrechts. Der Bundesgerichtshof hatte insoweit in der Entscheidung KZR 36/17 sehr strenge Anforderungen gestellt, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass aus der objektivierten Sicht des Klägers in jedem Stadium des Lizenzierungsprozesses die bedingungslose Bereitschaft des angeblichen Verletzers zu einer Lizenznahme zu FRAND-Bedingungen klar und unzweideutig erkennbar sein muss (vgl. B&B Bulletin vom 27. August 2020). Eine Lizenzbereitschaft war selbst angesichts von konkreten Vertragsverhandlungen zwischen den Parteien verneint worden. Demgegenüber vertreten die Düsseldorfer Gerichte die Auffassung, dass an die Lizenzierungsbitte des Lizenzsuchers keine besonderen Anforderungen zu stellen sind, sofern der Wille zur Lizenznahme eindeutig erkennbar ist. Nach der jetzigen Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf kann nur dann auf einen fehlenden Willen geschlossen werden, eine Lizenz zu FRAND – Bedingungen zu nehmen, wenn bei verständiger Würdigung davon ausgegangen werden muss, dass entgegen verbaler Bekundungen, abschließend und unverrückbar, eine Bereitschaft zur Lizenznahme tatsächlich nur zu ganz bestimmten, nicht verhandelbaren Konditionen besteht, die ersichtlich nicht FRAND sind. Das Landgericht Düsseldorf unterscheidet insoweit zwischen der allgemeinen Bereitschaft des angeblichen Verletzers, eine FRAND-Lizenz zu nehmen, und seiner Bereitschaft, auf konkrete Lizenzbedingungen, die sich als FRAND erwiesen haben, einzugehen. Diese konkrete Lizenzwilligkeit steht nach dem Landgericht Düsseldorf erst zur Debatte, wenn das Lizenzangebot des Patentinhabers als FRAND identifiziert worden ist.
Diese Fragen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Entscheidung KZR 36/17 – FRAND-Einwand bei Düsseldorfer Richtern vor allem mit Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der Entscheidung C 170/13 – Huawei ./. ZTE des EuGH kritisch gesehen wurde. Mit der Vorlage an den EuGH soll dies einer abschließenden Klärung zugeführt werden. Ob der EuGH hierzu Stellung nimmt, wird unter anderem davon abhängen, ob er, insbesondere auch mit Hinblick auf die vorangehend erwähnten Entscheidungen KZR 36/17 und KZR 35/17, eine Konkretisierung der von ihm aufgestellten Grundsätze für erforderlich hält oder ob er die aufgeworfenen Fragen als Fragen des konkreten Falls ansieht, die von den nationalen Gerichten zu beantworten sind. Nachdem der Bundesgerichtshof in der Sache KZR 35/17, in der das Urteil zwar vor der Vorlageentscheidung des Landgerichts Düsseldorf verkündet wurde, aber in schriftlicher Form erst kürzlich herausgegangen ist, noch einmal im Einzelnen ausgeführt hat, dass und warum die von ihm angelegten Kriterien in Übereinstimmung mit der Entscheidung C 170/13 – Huawei ./. ZTE stehen, ohne diese allerdings im konkreten Fall zu ändern, ist es möglich, dass sich der EuGH hierzu nicht mehr äußern wird, was bedeuten würde, dass es auf absehbare Zeit bei der restriktiven Linie des Bundesgerichtshofs bleibt.
Eine zeitnahe Entscheidung des EuGH wäre wünschenswert, da hinsichtlich des ersten Fragenkomplexes das Landgericht Mannheim in seiner Entscheidung 2 O 34/19 vom 18. August 2020 und das Landgericht München I in seiner Entscheidung 7 O 8818/19 vom 10. September 2020 entschieden haben, dass ein Automobilhersteller einen Einwand des Missbrauchs nach Art. 102 AEUV nicht auf einen Anspruch seiner Zulieferer auf eine Lizenz zu FRAND – Bedingungen stützen kann. Für die jeweiligen Berufungsverfahren ist diese Frage allerdings nur dann entscheidungserheblich, wenn die Zulieferer nach den Kriterien des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung KZR 35/17 – FRAND II auch als lizenzwillig anzusehen sind. Ist dies nicht der Fall, kommt es auf die Lizenzwilligkeit der Beklagten und damit auf den zweiten Fragenkomplex an. Der Bundesgerichtshof hat hierzu in der Entscheidung KZR 35/17 noch einmal umfassend Stellung genommen und die Vorlage an den EuGH mit der Begründung abgelehnt, die aufgeworfenen Fragen beträfen die Interessenabwägung im Einzelfall, die den nationalen Gerichten obliege. Ob sich der EuGH über diese Einschätzung hinwegsetzen und diesen Fragen grundsätzliche Bedeutung beimessen wird, bleibt abzuwarten. Solange es nicht ein klares Signal des EuGH gibt, dass er diese Fragen aufgreifen wird, werden die Instanzgerichte, sofern sie sich nicht der Düsseldorfer Linie anschließen, wohl durchentscheiden. Auch insofern wäre eine baldige Entscheidung des EuGH zu begrüßen.