Zugang zu patentierten Technologien durch Weiterentwicklung
Angesichts der stetig bzw. sogar exponentiell wachsenden Zahl von Patentanmeldungen und Patenten im Zeitalter des Internets der Dinge (“IoT”) und der künstlichen Intelligenz (“AI”) wird die Frage, wie man sich Zugang zu patentierten Technologien verschaffen kann, immer dringender. Wenn man, wie der Verfasser dieses Artikels, der Auffassung ist, dass das heutige Patentsystem zur Förderung erfinderischer Aktivitäten und Innovationen auch im Hinblick auf Technologien von Bedeutung ist, die sich rasch entwickeln und häufig zur Schaffung von riesigen Patent-Portfolios oder gar Patent-Dickichten führen, wie beispielsweise bei der Telekommunikation, ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie man „Neulingen“ eine Chance geben kann, derartige Technologien weiter zu entwickeln und die Möglichkeiten des Patentsystems zu betrachten, Zugang zu bereits patentierten „Primärerfindungen“ zu erleichtern.
Insoweit bieten die Patentsysteme vieler Länder schon eine Lösung, wie beispielsweise in GRUR 2021, 196, durch den Verfasser dieses Artikels diskutiert.
Beispielsweise gibt in Deutschland § 24(2) des Patentgesetzes (PatG) einem Erfinder, der eine bedeutende Weiterentwicklung/Verbesserung eines bereits patentierten Gegenstandes entwickelt und dieses durch ein “Sekundärpatent” schützt, das Recht, eine Zwangslizenz spezieller Art vom Inhaber des entsprechenden “Primärpatentes” zu verlangen: Diese besondere Art der Zwangslizenz besteht aus einer Kreuzlizenz, wobei im Gegensatz zur Entscheidung, ob eine „normale“ Zwangslizenz gemäß §24(1) PatG erteilt werden soll, das Vorhandensein eines besonderen öffentlichen Interesses nicht zu prüfen ist.
Der Gebrauch einer derartigen “Öffnungsklausel”, wie dies z.B. auch in Les Nouvelles 2019 durch Lakshmi Kumaran und den Verfasser dieses Papiers in einem Artikel “Patent Law Based Concepts For Promoting Creation And Sharing Of Innovations In the Age Of Artificial Intelligence And Internet of Everything” (Heinz Goddar/Lakshmi Kumaran, Les Nouvelles 2019, 282), diskutiert worden ist, würde “Neulingen” bzw. „Weiterentwicklern“ dabei helfen, Zugang zu bereits patentgeschützter Primärtechnologie zu erhalten.
Ähnliche Vorschriften existieren im Übrigen auch in anderen Ländern, wie z.B. in Indien.
Derartige „Öffnungsklauseln“, zusammen mit einer großzügigen „Experimentierklausel“ (wie z.B. in §11(2) PatG), geben Neulingen nicht nur die Möglichkeit, bereits patentierte Gegenstände weiterzuentwickeln, sondern auch – nämlich durch weitere Patentierung derartiger Weiterentwicklungen/Verbesserungen durch „Sekundärpatente“ – zur kommerziellen Benutzung dieser Verbesserungen Zugang zu bekommen. Durch diese Verfahren ist es gewährleistet, dass der Primär-Patent-Inhaber und der Sekundär-Patent-Inhaber, d.h. also der „Verbesserer“, neu entwickelte Technologien nicht nur ins Werk setzen, sondern diese auch beide zum Wohl des Verbrauchers und damit auch der Gesellschaft kommerziell verwenden können.
Solche “Öffnungsklauseln” sind nicht nur auf massen-patentierten Gebieten wie im Bereich der Telekommunikation nützlich, um beispielweise Zugang zu Innovationen zu bekommen, die von standard-essentiellen Patenten („SEPs“) gleichsam umzingelt sind, wobei also Zugang zu bereits bestehenden Standards, wie z.B. 5G, gegebenenfalls erzwungen werden kann. Vielmehr könnten sie auch bei Pharma-Entwicklungen verwendet werden, um z.B. Lizenzen an Patenten auf Substanzen und/oder für eine erste medizinische Verwendung zu erhalten, nämlich dadurch, dass Erfinder durch auf eine zweite (oder dritte, vierte…) medizinische Verwendung gerichtete Patente eine Kreuz-Zwangslizenz an Primärpatenten einfordern könnten.
In einer Welt, in der rasch anwachsende Patent-Portfolios und bzw. – Dickichte immer stärker zunehmen, könnten Zwangs-Kreuzlizenzen mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, wobei die entsprechenden Lizenzbedingungen durch Patentämter bestimmt würden, wenn gleichzeitig auch noch SEP-Inhaber verpflichtet würden, Lizenzbereitschaftserklärungen in entsprechende „Patentregister“ zur Eintragung zu bringen, könnten außerhalb des ordentlichen Rechtsweges den Souverän und damit dem Gemeinwohl verpflichtete sachkundige Institutionen zur harmonischen Weiterentwicklung und gleichzeitig angemessenem Zugang zu patentierten Technologien beitragen.
Bestimmungen wie §24(2) PatG bedeutet im Übrigen nicht, dass Zwangs-Kreuzlizenzen, „freie“ Lizenzen im Sinn von „gebührenfrei“ wären: Vielmehr können die entsprechenden Behörden, wie in Deutschland z.B. das Bundespatentgericht, bei der Gewährung der wechselseitigen Lizenzen durchaus der einen und/oder der anderen Seite Lizenzgebührenverpflichtungen auferlegen, um einen Ausgleich zwischen den „Verdiensten“ der Primärerfindung und der Sekundärerfindung zu schaffen.
All dies wird möglicherweise noch an Bedeutung gewinnen, wenn patentierte AI-Systeme „als solche“ anfangen, Erfindungen zu machen, indem sie nämlich von Anwendern patentierter AI-Systeme als Werkzeuge zur Schaffung weiterer Erfindungen verwendet werden. Dies wird in Zukunft möglicherweise dazu führen, dass sog. reach-through-Ansprüche von enormer Breite gewährt werden, zu denen Neulinge, wie z.B. Software-Entwickler, leichten Zugang erhalten sollten. Auch hier können Zwangs-Kreuzlizenzen zusammen mit Lizenzbereitschaftssystemen die Überwindung entsprechender Schwierigkeiten erleichtern.
Vorabdruck einer für Legal Era Magazine (www.legalera.in) geplanten Veröffentlichung in Co-Autorenschaft mit Lakshmi Kumaran.