Patentverletzungen – Deutsche Gerichtspraxis zu einstweiligen Verfügungen auf dem Prüfstand vor dem EuGH
Im Fall der Verletzung eines Patents verweigern deutsche Oberlandesgerichte regelmäßig vorläufigen Rechtsschutz, falls ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren das Streitpatent noch nicht bestätigt hat. Ob diese Rechtsprechung mit europäischen Vorgaben vereinbar ist, möchte das Landgericht München I vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) klären lassen.
Das Rechtsinstitut der einstweiligen Verfügung hat im gewerblichen Rechtschutz überragende Bedeutung. In eilbedürftigen Fällen können Schutzrechtsinhaber anstatt oder parallel zu einem Hauptsacheverfahren den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragen. Deutsche Gerichte agieren dabei schnell: In Marken-, Design- und Wettbewerbsangelegenheiten erlassen sie einstweilige Verfügungen meist innerhalb weniger Tage, manchmal sogar binnen Stunden, und im Regelfall ohne vorherige Anhörung der Gegenpartei. Um diese Rechtspraxis wird Deutschland im Ausland beneidet und zugleich gefürchtet.
Gesicherter Rechtsbestand als Voraussetzung für einstweilige Verfügung
Anders verhält es sich indes bei der Patentverletzung: Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt hier in der Regel – neben Verfügungsanspruch (Verletzung des Verfügungspatents) und Verfügungsgrund (Dringlichkeit) – die Glaubhaftmachung eines hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents voraus. Dafür ist es allerdings nach der derzeitigen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht ausreichend, dass die Erteilungsbehörde das geltend gemachte Patent nach eingehender Prüfung erteilte. Vielmehr fordern einige in Patentstreitigkeiten führende Oberlandesgerichte, dass das erteilte Patent grundsätzlich vor Erlass einer einstweiligen Verfügung ein weiteres Mal in einem erstinstanzlichen Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren auf seine Patentfähigkeit hin geprüft wurde. Denn von einem gesicherten Rechtsbestand könne man nur ausgehen, wenn sich das Patent bereits in einem Einspruchs /Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt oder dem deutschen Patent- und Markenamt oder in einem Nichtigkeitsverfahren des Bundespatentgerichts als rechtsbeständig erwiesen hat.
Diese Rechtspraxis führt dazu, dass Patentinhaber im Regelfall nur dann vorläufigen Rechtsschutz erhalten, wenn ihr Patent das Gütesiegel eines überstandenen zweiseitigen Rechtsbestandsverfahrens aufweisen kann. Den Patentämtern trauen die Gerichte offensichtlich nicht zu, die Patentfähigkeit allein im Erteilungsverfahren zuverlässig eingeschätzt zu haben.
LG München: Auslegung durch Oberlandesgerichte ist unionsrechtswidrig
Eine Patentstreitkammer beim Landgericht München I hält diese Auslegung für unionsrechtswidrig und legt die Sache deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vor (LG München I, Beschluss vom 19.01.2021 – 21 O 16782/20). Nach Art. 9 Abs. 1 der europäischen Durchsetzungsrichtlinie 2004/48/EG solle sichergestellt sein, dass gegen einen Patentverletzer eine einstweilige Maßnahme angeordnet werden kann, um die Fortsetzung einer Patentverletzung zu untersagen. Das sei aber nach der oben skizzierten Rechtsprechung der Oberlandesgerichte nicht möglich, denn ein – wie im vorliegenden Fall – gerade erst erteiltes Patent könne ein Rechtsbestandsverfahren noch gar nicht durchlaufen haben. Denn Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren seien erst nach Patenterteilung möglich.
Eingehende fachliche Prüfung bereits vor Erteilung
Die Münchener Richter verweisen darauf, dass selbst Patente, deren Erteilung bereits lange zurückliegt, oftmals im Zeitpunkt der Beantragung einer einstweiligen Maßnahme noch kein solches Rechtsbestandsverfahren durchlaufen haben. Der Patentinhaber habe naturgemäß auch gar keinen Einfluss darauf, ob sein Patent nach Erteilung mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen wird. Eine einstweilige Maßnahme könne dann trotz eines akuten Verletzungssachverhaltes grundsätzlich erst ergehen, wenn ein Rechtsbestandsverfahren erstinstanzlich abgeschlossen ist. Dies könne viele Monate oder gar Jahre dauern. Die Fortsetzung der Patentverletzung müsse in dieser Zeit nach der zur Überprüfung gestellten Rechtsprechung hingenommen werden, obwohl im Fall eines Patents – anders als bei anderen Rechten des geistigen Eigentums – bereits eine eingehende fachliche Prüfung erfolgt, bevor es erteilt werden kann.
Systemische Schwächen des einstweiligen Rechtsschutzes in Patentstreitigkeiten
Ganz gleich wie die europäischen Richter in Luxemburg über die deutsche Rechtspraxis urteilen mögen. Sämtliche Schwächen des Systems des einstweiligen Rechtsschutzes werden dadurch nicht beseitigt. Die Prüfung einer Patentverletzung, nämlich die genaue Ermittlung des patentgeschützten Gegenstandes und die Verletzungsanalyse, ist auch für versierte Richter schwer und für ein einstweiliges Verfügungsverfahren, bei der in kürzester Zeit immer nur eine summarische Prüfung erfolgen kann, oftmals nicht geeignet. Die Richter sind jedoch daran gehindert, den Erlass einer einstweiligen Verfügung nur deshalb abzulehnen, weil die zu bearbeitende Materie und Sachfragen zu komplex sind. In der Folge sind Fehlentscheidungen vorprogrammiert. Auch sind die Gerichte an den Rechtsbestand des Patents gebunden und können selbst bei begründeten Zweifeln den Erlass der einstweiligen Verfügung nicht ablehnen, solange nicht schon ein Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens anhängig ist. Zwar können die Gerichte dem Patentinhaber für die Vollziehung einer einstweiligen Verfügung eine Sicherheitsleistung auferlegen. Der aus einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Verfügung entstandene Schaden ist meist nicht wiedergutzumachen: Wer auf einer Leitmesse seine Produktinnovationen aufgrund vermeintlicher Patentverletzung nicht präsentieren darf, dem nützt es kaum, wenn die einstweilige Verfügung Monate oder Jahre später wieder aufgehoben wird. Das Produkt wird keinen Käufer mehr finden.