Der europäische Werkbegriff im Urheberrecht gewinnt weiter Kontur
Ausgerechnet der Werkbegriff ist in keiner der vielen Richtlinien der EU zum Urheberrecht definiert. In den letzten Jahren hat ihn dafür der EuGH für sich entdeckt, und zwar als „autonomen Begriff des Unionsrechtes“, der unionsweit einheitlich auszulegen und anzuwenden sei. In seiner Entscheidung C-683/17 – Cofemel zieht der EuGH die Summe seiner bisherigen Überlegungen und verabschiedet sich von der „ästhetischen Wirkung“ als Schutzkriterium.
Der Weg zum europäischen Werkbegriff
Dem EuGH waren bislang stets Grenzphänomene zur Beurteilung vorgelegt worden, und so hat er sich sozusagen vom Rand zur Mitte des Begriffs vorgearbeitet. Das erste Urteil in der Reihe war die Entscheidung C-5/08 – Infopaq, von 2009, bei dem es um die Schutzfähigkeit eines aus 11 Wörtern bestehenden Auszugs aus einem geschützten Werk ging (die der EuGH bejahte). In der Sache C-145/10 – Painer aus dem Jahre 2011 beschäftigte er sich dann erstmals ausführlicher mit dem Konzept des bei der Gestaltungsaufgabe eröffneten Spielraums, und zwar am Gegenstand der Porträtfotografie. Dieses Erfordernis der Originalität, mit der ein Urheber seine schöpferischen Fähigkeiten in eigenständiger Weise zum Ausdruck bringt, indem er freie und kreative Entscheidungen trifft, hat er dann in Sachen C-604/10 – Football DataCo – weiter ausgeführt. Solche Originalität sei stets ausgeschlossen, falls technische Erwägungen, Regeln oder Zwänge für eine Gestaltung bestimmend sind, die für die künstlerische Freiheit keinen Raum lassen.
Um die interessante Frage, ob der Geschmack eines Käses Werkschutz im Sinne des Urheberrechtes genießen könnte, ging es dann in der Sache C-310/17 – Levola Hengelo – aus dem Jahre 2018. Die Schutzfähigkeit scheiterte letztlich daran, dass im Fall des Geschmacks eines Lebensmittels, im Unterschied zu beispielsweise einem literarischen, bildnerischen, filmischen oder musikalischen Werk, die Identifizierung im Wesentlichen auf Geschmacksempfindungen und ‑erfahrungen beruht, die subjektiv und veränderlich sind. Es fehlte dem EuGH hier an der intersubjektiven Konkretisierbarkeit des Schutzgegenstands. Gleichwohl hat er es nicht nehmen lassen, in dieser Sache die schöpferischen Anforderungen an ein Werk knapp zusammenzufassen. Demnach müssen zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein: „Zum einen muss es sich bei dem betreffenden Objekt um ein Original in dem Sinne handeln, dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt (…). (Rn. 36) Zum anderen ist die Einstufung als „Werk“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 Elementen vorbehalten, die eine solche geistige Schöpfung zum Ausdruck bringen (…).“ (Rn. 37)
Prallt der „Geburtstagszug“ des BGH auf die Cofemel-Entscheidung des EuGH?
Hierauf baut der EuGH nun in seiner Entscheidung in der Sache C-683/17 – Cofemel vom 12. September 2019 auf. Sie betrifft Kleidungsmodelle, also den Bereich der Angewandten Kunst. Für solche Werke galt in Deutschland jahrzehntelang eine höhere Schwelle für den Urheberschutz, um einen konkurrierenden Urheber- und Geschmacksmusterschutz zu verhindern. Diesen Sonderweg gab der BGH unter dem Druck der europäischen Entwicklung des Designrechts bereits 2014 seiner Entscheidung I ZR 143/12 – Geburtstagszug (GRUR 2014, 175) auf. Dies bekräftigt der EuGH nunmehr ausdrücklich in Rn. 45 der Cofemel-Entscheidung. Es gelte der Grundsatz des kumulativen Schutzes als Muster oder Modell zum einen und nach dem Urheberrecht zum anderen.
In seiner Geburtstagszug-Entscheidung schloss der BGH seine Ausführungen in Rn. 41 wie folgt:
„Auch wenn bei Werken der angewandten Kunst keine höheren Anforderungen an die Gestaltungshöhe eines Werkes zu stellen sind als bei Werken der zweckfreien Kunst, ist bei der Beurteilung, ob ein solches Werk die für einen Urheberrechtsschutz erforderliche Gestaltungshöhe erreicht, zu berücksichtigen, dass die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen kann, soweit sie nicht dem Gebrauchszweck geschuldet ist, sondern auf einer künstlerischen Leistung beruht (…). Eine eigene geistige Schöpfung des Urhebers setzt voraus, dass ein Gestaltungsspielraum besteht und vom Urheber dafür genutzt wird, seinen schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck zu bringen (…) Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine zwar Urheberrechtsschutz begründende, gleichwohl aber geringe Gestaltungshöhe zu einem entsprechend engen Schutzbereich des betreffenden Werkes führt.“
Dem scheint nun der EuGH in seiner Cofemel-Entscheidung zu widersprechen. Der Umstand, so der EuGH in Rn. 51 des Urteils, dass die in Rede stehenden Bekleidungsmodelle über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen, könne es nicht rechtfertigen, solche Modelle als „Werke“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 einzustufen. Dies spiegelt das „anti-subjektive“ Argument aus der Entscheidung Levola zum Käsegeschmack.
Nach dem EuGH allein maßgeblich sei vielmehr die oben wiedergegebene Definition des autonomen Werkbegriffs des Unionsrechts mit seinen beiden kumulativ erforderlichen Elementen, nämlich der „eigenen geistigen Schöpfung“ und des „nicht ausschließlich durch Vorgaben oder Technik bestimmten Schaffens“ (Rn. 29 bis 31 des Urteils).
Dass nach der Cofemel-Entscheidung eine ästhetische Wirkung als schutzbegründendes Merkmal künftig irrelevant ist, bedeutet aber nicht, dass die gerade zitierte Position des BGH in Sachen Geburtstagszug revidiert werden müsste, denn auch er stützte sich bereits auf den neuen Werkbegriff des EuGH. Dass die ästhetische Wirkung eines Gegenstands den Schutz begründe, scheint – dem missverständlichen Ausdruck in der zitierten Passage zum Trotz – auch der BGH nicht zu postulieren. Er erwähnt die ästhetische Wirkung eher in dem Sinne, dass sie die erwünschte Folge der individuellen Ausübung künstlerischer Freiheit sei (etwas in der Art sagt auch der EuGH in Rn. 54 seiner Entscheidung).
In Rn. 35 des Urteils sagt der EuGH dann noch etwas weiteres, das auf den ersten Blick der Position des BGH zu widersprechen scheint: Wenn ein Gegenstand die Anforderungen des autonomen Werkbegriffs erfüllt, hänge der Umfang dieses Schutzes nicht vom Grad der schöpferischen Freiheit seines Urhebers ab und sei daher auch bei einem Gegenstand mit geringer Gestaltungsfreiheit nicht geringer als derjenige, der auch sonst allen unter die Richtlinie fallenden Werken zukommt. Hatte nicht der BGH geurteilt, dass eine geringe Gestaltungshöhe einen entsprechend engen Schutzbereich bedeute?
Auch hier hatte der BGH jedoch die vom EuGH nun gezogene Grenzlinie bereits beachtet, denn er reduziert nicht etwa den materiellen Schutzumfang, sondern betont lediglich, dass in einem Bereich, in dem vieles vorgegeben ist, mithin also die Individualität nur über geringen Spielraum innerhalb der Vorgaben verfügt, auch alle anderen, die nach denselben Vorgaben arbeiten, ähnliche Ergebnisse erzielen werden.
Der Schöpfer eines vierrädrigen Kinderwagens darf also – so sind BGH und EuGH gleichermaßen zu verstehen – nicht anderen Schöpfern verbieten, vierrädrige Kinderwagen zu entwerfen, soweit sich deren vierrädrige Kinderwägen jeweils als individuelle Gestaltungen voneinander abheben.
Bleibt noch die Frage nach der für den Urheberrechtsschutz erforderlichen Gestaltungshöhe angesichts des parallelen EU-Designschutzes. Der EuGH äußert sich hier etwas sibyllinisch, wenn er in Rn. 51f. sagt: „Aus diesen Gründen darf (…) die Gewährung urheberrechtlichen Schutzes für einen als Muster oder Modell geschützten Gegenstand nicht dazu führen, dass die Zielsetzungen und die Wirksamkeit dieser beiden Schutzarten beeinträchtigt werden. Daraus folgt, dass der Schutz von Mustern und Modellen und der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz nach dem Unionsrecht zwar kumulativ für ein und denselben Gegenstand gewährt werden können, diese Kumulierung jedoch nur in bestimmten Fällen infrage kommt.“ Daraus könnte man folgern, dass an die „eigene geistige Schöpfung“ keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen, um zu verhindern, dass der Designschutz vom Urheberrechtsschutz komplett überlagert wird. Diese für die Praxis enorm wichtige Frage wird mit Sicherheit wieder die Gerichte beschäftigen.
Ausblick
Ein weiteres Mal überformt die Rechtsprechung des EuGH durch die Definition „autonomer Begriffe des Gemeinschaftsrechts“ die nationale Gesetzgebung und Spruchpraxis.
Angesichts der offenen Formulierung des § 2 UrhG ist es zum Werkbegriff zwar noch zu keinem Konflikt der europäischen Rechtsprechung mit deutschem gesetztem Recht gekommen, doch hat die europäische Rechtsentwicklung den BGH bei dessen Auslegung inzwischen schon mehrfach zu Änderungen teils jahrzehntelang etablierter Rechtsprechung gezwungen. Dies wird allerdings nach der jüngsten Entscheidung des EuGH in Sachen Cofemel wahrscheinlich nicht erforderlich sein.