Akteneinsicht beim UPC
Wenn Unternehmen befürchten, aus einem Patent in Anspruch genommen zu werden oder dies bereits geschehen ist, spart die Akteneinsicht in parallele Rechtsbestands- oder Verletzungsverfahren aus diesem Patent Zeit und Geld bei der Vorbereitung der Verteidigung.
Die Akten in Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt oder dem Deutschen Patent- und Markenamt sind bekanntlich öffentlich und regelmäßig unbeschränkt zugänglich, sodass dort eingebrachter Stand der Technik und Argumente zur Auslegung des Klagepatents und dessen (fehlender) Rechtsbeständigkeit sofort ermittelt werden können. Bei Nichtigkeitsverfahren vor dem Bundespatentgericht muss Akteneinsicht beantragt werden. Zwar wird auch diese regelmäßig vollumfänglich gewährt; der Patentinhaber kann aber auch durch einen bloßen pro forma-Widerspruch die Einsichtnahme regelmäßig um ein paar Monate ab Antragstellung verzögern. In die Akten von Verletzungsverfahren gewähren die deutschen Gerichte hingegen regelmäßig keine Einsicht; nur Urteile werden veröffentlicht, sodass man betreffend Nichtverletzungsargumente darauf angewiesen ist, diese abzuwarten.
Wie verhält es sich diesbezüglich vor dem Unified Patent Court (UPC)?
Gemäß Regel 262.1(b) der Verfahrensordnung des UPC (VerfO) sind Schriftsätze und Beweismittel (in allen Verfahrensarten) anders als Entscheidungen und Anordnungen des Gerichts (Regel 262.1(a) VerfO) nicht öffentlich, aber auf einen begründeten Antrag und nach Anhörung der Parteien hin öffentlich zu machen. In formaler Hinsicht hatte das Berufungsgericht zunächst entschieden (Anordnung vom 8. Februar 2024, Az. UPC_CoA_404/2023), dass ein solcher Antrag von einem vor dem UPC zugelassenen Anwalt gestellt werden muss.
Mit Spannung war nun erwartet worden, welche inhaltlichen Gründe das Recht zur Akteneinsicht begründen. Auf Ebene der ersten Instanz hatte es hierzu divergierende Entscheidungen gegeben. Die Nordisch-baltische Regionalkammer hatte im Grundsatz ein allgemein bekundetes berufliches oder wissenschaftliches Interesse genügen lassen (Anordnung vom 17. Oktober 2023, Az. UPC_ CFI_11/2023), die Zentralkammer München nicht (Anordnung vom 20. September 2023, Az. UPC_CFI_1/2023 und Anordnung vom 21. September 2023, Az. UPC_CFI_75/2023). Beide Kammern hatten für jedoch für ihren jeweiligen Begründungsstrang rechtsdogmatische Tiefe bewiesen und insbesondere verschiedene Argumente aus der Systematik der Verfahrensordnung und deren Historie hergeleitet. Es erschien daher offen, wie sich das Berufungsgericht positionieren wird.
Mit Entscheidung vom 10. April 2024 (Az. UPC_CoA_404/2023) hat sich das Berufungsgericht nun grundsätzlich der Linie der Nordisch-Baltischen Regionalkammer angeschlossen. Danach ist ein allgemein geäußertes Interesse an der Akteneinsicht ausreichend, solange es nicht missbräuchlich ist (Rn. 43, 44 und 55). Wann ein Missbrauch vorliegt, lässt das Gericht offen; da aber praktisch jedes bekundete berufliche oder wissenschaftliche Interesse ausreicht, dürften Missbrauchskonstellationen auf absolute Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Das Gericht begründet diese weite Linie vor allem damit, dass Geschäftsgeheimnisse und personenbezogene Daten durch ein gesondertes Verfahren nach Regel 262.2 VerfO geschützt werden können (Rn. 45 und 46).
Als Einschränkung dieser weiten Linie könnte jedoch gelesen werden, dass es im konkreten Fall um ein bereits abgeschlossenes Verfahren ging. Das Gericht sieht keine Notwendigkeit, die Integrität eines Verfahrens durch Verweigerung der Akteneinsicht zu wahren, wenn das Verfahren bereits abgeschlossen ist, sei es durch gerichtliche Entscheidung oder durch Vergleich (Rn. 48, 49 und 52). Die Ausführungen in Rn. 53 deuten dann aber darauf hin, dass bei einem anhängigen Verfahren die persönliche Betroffenheit durch das Patent, z.B. eine drohende Inanspruchnahme hieraus, ausreichen kann, um einen Antrag auf Akteneinsicht zu begründen.
Für die Praxis bedeutet dies, dass Unternehmen in abgeschlossenen Verfahren über ihren Anwalt anonym Akteneinsicht erhalten können, weil ein allgemeines Interesse geltend gemacht werden kann, in laufenden Verfahren aber unter Umständen die mögliche persönliche Betroffenheit offengelegt werden muss – was nachteilig sein kann, wenn z.B. zu befürchten ist, dass der Patentinhaber durch das Akteneinsichtsgesuch erstmals auf eine ihm bisher unbekannte Patentverletzung aufmerksam wird.
Unternehmen sollten daher unter Hinzuziehung anwaltlicher Beratung sorgfältig abwägen, ob sie Akteneinsicht in ein laufendes Verfahren beantragen und wie sie dies im Einzelnen begründen.