EuGH zu Einstweiligen Verfügungen in Deutschland – Reaktionen in Rechtsprechung und Literatur
Nachdem das Landgericht München um eine Klarstellung gebeten hatte, hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur deutschen Gerichtspraxis in Bezug auf einstweilige Verfügungen in Fällen von Patentverletzungen geäußert, in denen die Gültigkeit des fraglichen Patents nicht bereits in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bestätigt worden ist. Während das EuGH-Urteil die Patentinhaber zu begünstigen scheint, bleibt es abzuwarten, ob das Urteil tatsächlich zu einer Änderung der Praxis der deutschen Gerichte führt.
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 28. April 2022 (Rs. C-44/21) entschieden, dass eine Gerichtspraxis, die einstweilige Anordnungen bei Patentverletzungen grundsätzlich ablehnt, wenn die Gültigkeit des betreffenden Patents in einem erstinstanzlichen Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren (noch) nicht bestätigt wurde, mit dem europäischen Recht unvereinbar ist. Darüber hinaus darf eine nationale Rechtsprechung, die mit diesem Urteil unvereinbar ist, von den zuständigen Gerichten nicht angewendet werden.
Anlass für das Landgericht München, den EuGH um eine Entscheidung zu bitten, war die Übernahme einer Praxis durch das Oberlandesgericht München, die bereits von anderen Gerichten in einer hohen Anzahl von Patentsachen angewendet wird. Nach dieser Praxis werden einstweilige Verfügungen in Patentverletzungsverfahren regelmäßig von den Gerichten abgelehnt, wenn die Gültigkeit des erteilten Patents nicht bereits zumindest im erstinstanzlichen Verfahren erfolglos angefochten wurde. Dies hat zu Kritik geführt, da sich Patentinhaber außerstande sahen, eine einstweilige Verfügung gegen einen Verletzer zu erwirken, wenn die Gültigkeit ihres Patents nicht zuvor angegriffen worden war – ein Umstand, auf den der Patentinhaber keinen direkten Einfluss hat. Sowohl die Entwicklung als auch die derzeitige Praxis in dieser Hinsicht sind von Gericht zu Gericht unterschiedlich.
Reaktionen auf die EuGH-Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH hat für einiges Aufsehen gesorgt und ist vielfach kritisiert worden.
So kritisiert der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Dr. Thomas Kühnen, in seiner Stellungnahme (GRUR 2021, 466) zum Vorlagebeschluss des Landgerichts München (21 O 16782/20), dass die fragliche Rechtsprechung in dem Vorlagebescheid vom LG München I nicht zutreffend wiedergegeben worden sei. Die von dieser Rechtsprechung entwickelten Ausnahmen, in denen trotz ungeprüften Rechtsbestandes eine einstweilige Verfügung erlassen werden könne, seien unzutreffend als abschließend dargestellt worden und es sei nicht auf die Beweggründe eingegangen worden, die in der fraglichen Rechtsprechung dazu geführt hätten, eine einstweilige Verfügung in Patentsachen nicht einfach um des erteilten Patents willen zu erlassen. Außer Acht gelassen worden sei zudem, dass nur eines von drei Patenten einen Rechtsbestandsangriff überstehe. Die technisch oft sehr komplexen Erfindungsgegenstände seien für ein nur juristisch besetztes Verletzungsgericht häufig nicht verlässlich daraufhin verifizierbar, ob sie gegenüber dem Vorbekannten neu und erfinderisch sind. Auch in der Richtlinie 2004/48/EG (Enforcement-RL) sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, so dass bei der Entscheidung über den Erlass einer vorläufigen Unterlassungsanordnung auch die Belange des mutmaßlichen Verletzers beachtet werden müssten. Der Ansatz des LG München I ziehe die Patenterteilung und dessen technisch laienhafte Überprüfung durch das Verletzungsgericht als Grundlage dafür heran, ob das Patent vorläufig durchgesetzt werde oder nicht, und nehme daher keine Würdigung der Umstände des Einzelfalls vor.
Auf diese Anmerkung reagiert Pichlmaier, Vorsitzender Richter am LG München I (GRUR 2021, 557) und weist die Kritik der unrichtigen Sachverhaltsdarstellung zurück. Dem Vorlagebeschluss liege lediglich die Rechtsprechung des OLG München zugrunde, die zutreffend wiedergegeben worden sei und die, zum Beispiel anders als das OLG Düsseldorf, von abschließenden Ausnahmen ausgehe. Gegenstand der Vorlage sei zudem der praktizierte Grundsatz der OLG-Rechtsprechung und keine Einzelfrage. Die von Kühnen angeführte Fehlerquote der Patentämter, welche häufig im Nachhinein zu einer Vernichtung der Patente führe, sei nicht in der OLG-Rechtsprechung erwähnt und somit auch in der Vorlage nicht berücksichtigt worden. Das von Kühnen angeführte Argument der technischen Komplexität könne nur für Einzelfälle gelten, jedoch nicht für den in der fraglichen Rechtsprechung entwickelten Grundsatz herangezogen werden. Auch dieses Argument sei in der Rechtsprechung des OLG München nicht erwähnt worden.
Auch der Vorsitzender Richter am BGH Deichfuß merkt an (GRUR 2022, 800), dass der EuGH in seiner Entscheidung von einem durch das LG München I in seinem Vorlagebeschluss unzutreffend wiedergegebenen Sachverhalt ausgegangen sei. Laut diesem Beschluss setze der Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen Patentverletzung „regelmäßig“ voraus, dass das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden habe, existierende Ausnahmen würden nicht angewandt. Dies zeichne ein falsches Bild von der deutschen Rechtsprechungspraxis. Aus Erwägungsgründen und Bestimmungen der Durchsetzungsrichtlinie ergebe sich jedoch, dass sich eine schematische Betrachtung verbietet, woraus sich die Anforderung an Gesetzgebung und nationale Gerichte ergebe, alle objektiven Umstände des Einzelfalls gebührend zu berücksichtigen. Da die bisherige Rechtsprechung völlig anders aussehe als in dem Vorlagebeschluss des LG München I wiedergegeben, begründe die Entscheidung des EuGH keinen Anlass dafür, von der bisherigen Rechtsprechungspraxis abzuweichen; diese sei sachlich überzeugend und solle beibehalten werden.
Auch in der Literatur wird dieses Urteil kritisch gesehen. So wird die Entscheidung zwar für folgerichtig gehalten (Keßler/Palzer in EuZW 2022, 562), ähnlich wie von Kühnen wird aber angemerkt, dass die deutsche Rechtsprechung deutlich differenzierter sei als von der EuGH Entscheidung angenommen. Der EuGH habe eine Vorlagefrage beantwortet, die sich tatsächlich in dieser Form nicht stelle, weshalb zweifelhaft sei, ob sich die Gerichtspraxis ändern werde. Ein unionsrechtlicher Zwang zur Anpassung läge jedenfalls nicht vor, da die Enforcement-RL keine Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte um jeden Preis verlange, weil alle davon ermöglichten Maßnahmen unter dem Verhältnismäßigkeitsvorbehalt stünden. Dies sei der Tatsache geschuldet, dass es bei der Durchsetzung von Immaterialgüterrechten regelmäßig zu Kollisionen widerstreitender Grundrechte komme. Zweifel am Rechtsbestand seien daher im Rahmen der aufgrund dieses Vorbehaltes gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen. Zudem würde die drohende Haftung aus § 945 ZPO die leichtfertige Beantragung einstweiliger Verfügungen durch den Patentinhaber ausreichend hemmen.
Weiter wird angemerkt (Schmitz/Zilliox in GRUR-Prax 2022, 314), dass der EuGH zwar zu Recht darauf verweise, dass für Patente ab Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit gelte, die von den Oberlandesgerichten entwickelte Rechtsprechung jedoch in der Praxis dazu führe, dass für erteilte Patente der einstweilige Rechtsschutz versagt werde, weil die Gerichte die Dringlichkeit wegen fehlenden Bestandsverfahrens grundsätzlich ablehnten. Mit dem hier gegenständlichen Urteil sei nun zu erwarten, dass die Zahl der Verfügungsanträge aufgrund von Patenten ohne abgeschlossenes Bestandverfahren ansteigt. Ob die Gerichte aufgrund des Urteils in Zukunft großzügiger einstweilige Verfügungen erlassen, erscheine fraglich, da die nationalen Richter nachvollziehbare
Gründe gehabt hätten, an den Rechtsbestand des Verfügungspatents hohe Anforderungen zu stellen. Zudem würden die vom EuGH erwähnten Sicherheiten zugunsten des Antragsgegners praktisch selten hinreichenden Schutz vor den wirtschaftlichen Folgen einer unberechtigten Unterlassungsverfügung bieten. Insgesamt scheine eine der wesentlichen Hürden für Antragsteller ausgeräumt und es bestehe nun auch bei ungewissem Rechtsbestand zumindest die Möglichkeit, einen schnellen Unterlassungstitel im einstweiligen Verfügungsverfahren zu erwirken.
Ausblick
Insgesamt bleibt daher abzuwarten, ob das EuGH-Urteil tatsächlich zu einer Änderung der Rechtsprechungspraxis führen wird.