Neue Entscheidung G 1/24 – Anspruchsauslegung beim Europäischen Patentamt
Am 18. Juni 2025 hat die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) eine lang erwartete Entscheidung (G 1/24) veröffentlicht, die erhebliche Auswirkungen auf die Auslegungspraxis europäischer Patente haben dürfte.
Gemäß Art. 69 Abs. 1 EPÜ, der von den nationalen Patentgerichten aller EPÜ-Staaten anzuwenden ist, wird der Schutzbereich eines europäischen Patents durch die Patentansprüche bestimmt wobei Beschreibung und Zeichnungen sind zur Auslegung heranzuziehen sind. Auch das Einheitliche Patentgericht (UPC) folgt dieser Linie[1]. Danach sind Ansprüche nicht isoliert, sondern stets im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen zu interpretieren.
Anders verhielt es sich bislang im Prüfungs- und Einspruchsverfahren vor dem EPA. Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern war uneinheitlich: Während einige Kammern Beschreibung und Zeichnungen zumindest dann heranzogen, wenn der Anspruch unklar war, lehnten andere dies ab – selbst wenn die Beschreibung Aufklärung über den tatsächlich intendierten Anspruchsinhalt versprach.
Prominente Beispiele sind die Entscheidungen T 1473/19 (30. September 2022) und T 1127/16 (18. Februar 2021), in denen Patente wegen eines im Anspruch fehlenden Kommas widerrufen wurden. Die jeweiligen Kammern vertraten die Auffassung, dass bei sprachlich klaren Ansprüchen ein Rückgriff auf die Beschreibung nicht zulässig sei, selbst wenn dies zu einem vom übrigen Inhalt abweichenden Verständnis führt.
Diese divergierende Rechtsprechung trat auch in der Beschwerdesache T 0439/22 zutage. In einer Zwischenentscheidung vom 24. Juni 2024 wurde diskutiert, ob ein im Hauptanspruch verwendeter Begriff in seiner engeren technischen Bedeutung – ohne Bezug zur Beschreibung – oder gemäß einer in der Beschreibung enthaltenen weiteren Auslegung zu verstehen sei. Das Ergebnis war entscheidend für die Beurteilung der Neuheit und damit der Patentfähigkeit. Da die Kammer die aufgeworfene Rechtsfrage nicht abschließend klären konnte, legte sie diese gemäß Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vor.
Mit Entscheidung G 1/24 hat die Große Beschwerdekammer nun Klarheit geschaffen: Beschreibung und Zeichnungen sind bei der Auslegung von Patentansprüchen für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit stets zu berücksichtigen – auch im Prüfungs- und Einspruchsverfahren.
Mit dieser Entscheidung wird nun ein Paradigma vorgegeben: Künftig ist eine vom Inhalt der Beschreibung und Zeichnungen der Patentanmeldung oder des Patents losgelöste Auslegung der Ansprüche für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit im Prüfungs- und Einspruchsverfahren nicht mehr zulässig.
Im Ergebnis wird die Auslegungspraxis des Europäischen Patentamts somit mit jener des UPC und vieler nationaler Gerichte harmonisiert.
Des Weiteren dürfte es zu erwarten sein, dass im Prüfungsverfahren vor dem EPA die Anpassung der Beschreibung an den Gegenstand der Ansprüche in Zukunft noch kritischer überprüft wird.
Für die tägliche Praxis bedeutet diese Entscheidung insbesondere:
- Bei der Ausarbeitung einer Neuanmeldung ist höchste Sorgfalt geboten. Begriffe, Ausdrücke und Parameter, die in den Ansprüchen verwendet werden, sollten gezielt durch Definitionen, erläuternde Klarstellungen und Rückfallpositionen in der Beschreibung (und ggf. in den Zeichnungen) gestützt werden.
- Die Beschreibung sollte so formuliert sein, dass sie eine möglichst weite Auslegung des Anspruchsgegenstands zulässt, ohne dabei die Konsistenz mit den Ansprüchen zu gefährden.
- Besonderes Augenmerk ist darauf zu legen, dass die vom Erfinder bzw. vom Anmelder beabsichtigte Ausführungsform – oder bevorzugte technische Umsetzung – klar innerhalb des Auslegungsrahmens des Anspruchsgegenstands liegt.
BOEHMERT & BOEHMERT hat die neue Entscheidung bereits in die Praxis umgesetzt und steht jederzeit für Beratungsgespräche zur Verfügung.
[1] Siehe u. a. CoA_335/2023 / App_576355/2023 vom 26. Februar 2024 und CoA_1/2024 / ApL_8/2024 vom 13. Mai 2024