Ausweitung des TRIPS Waivers auf Covid-19-Therapeutika und -Diagnostika
Die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) hat im Juni beschlossen, dass alle „Entwicklungsländer“ auf den Schutz geistigen Eigentums verzichten können, das für die Herstellung und den Vertrieb von Covid-19-Impfstoffen erforderlich ist, einschließlich aller dafür erforderlichen Verfahren, Technologien und Inhaltsstoffe („TRIPS Waiver“). Der Begriff „Entwicklungsland“ ist dabei so weit gefasst, dass er sogar die Volksrepublik China einschließt.
Was ist das TRIPS-Abkommen? Die WTO erklärt auf ihrer Website: „Das WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) ist das umfassendste multilaterale Übereinkommen über geistiges Eigentum (IP). Es spielt eine zentrale Rolle bei der Erleichterung des Handels in den Bereichen des Wissens und der Kreativität, bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten über geistiges Eigentum und bei der Gewährleistung des Spielraums der WTO-Mitglieder für die Verwirklichung ihrer innenpolitischen Ziele. Es umrahmt das System des geistigen Eigentums in Bezug auf Innovation, Technologietransfer und Gemeinwohl. Das Abkommen ist eine rechtliche Anerkennung der Bedeutung der Verbindungen zwischen geistigem Eigentum und Handel und der Notwendigkeit eines ausgewogenen Systems für geistiges Eigentum. https://www.wto.org/english/tratop_e/trips_e/trips_e.htm.
Die Coronavirus-Pandemie hat die weltweite Debatte über die Frage, ob das multilaterale Handelsregime zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum (IPR) den Zugang zu wichtigen medizinischen Produkten einschränkt, neu entfacht. Die AIDS-Krise in Afrika war zugegebenermaßen ein Negativbeispiel, bei dem Pharmaunternehmen ihr Monopol (aus-)nutzten und dem Zugang zu erschwinglichen AIDS-Medikamenten in Afrika im Weg standen. Heute sind wir mit einer ungleichen Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten in der Welt konfrontiert. Patente haben in diesem Zusammenhang einen „schlechten Ruf“. Deshalb haben Indien und Südafrika gemeinsam mit einer großen Zahl von Entwicklungsländern im Oktober 2020 trotz der bereits im WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) verankerten Flexibilitätsregelungen einen Vorschlag für eine vorübergehende Ausnahmeregelung als Reaktion auf Covid-19 vorgelegt, der nun von der Ministerkonferenz beschlossen wurde. Die Gründe für die ungleiche Verteilung von Covid-Impfstoffen und Medikamenten liegen jedoch nicht nur bei Patenten. Tatsächlich sind sie vielfältig und reichen von schlechten Gesundheitsstrukturen über unzureichende Informationskampagnen bis hin zu ungenügender Logistik vor Ort. Es mangelt in ärmeren Ländern an Produktions-Know-how und -kapazitäten und an der Fähigkeit, die erforderliche Kühlung aufrechtzuerhalten, bis der Impfstoff den Patienten erreicht. Es ist auch die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung, da sich die reicheren Länder durch Beschaffungsverträge frühzeitig Impfstoffe gesichert haben. Es geht nicht um Patente. Aus diesem Grunde wird auch der TRIPS Waiver überhaupt nicht dazu beitragen, den Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten zu ermöglichen.
Die Pharma- und Biotech-Industrie ist zu diesem Thema erstaunlich still, zumindest was die öffentliche Diskussion angeht. Kann sich die Industrie zurücklehnen, weil „nur“ Covid-19-Impfstoffe betroffen sind oder weil der TRIPS Waiver hinter den ursprünglichen Anforderungen zurückbleibt? Nein, denn ganz gleich, wie der TRIPS Waiver konkret ausgestaltet wurde – er sendet das falsche Signal an die Öffentlichkeit. Der TRIPS Waiver scheint das Narrativ zu bestätigen, dass Patente dem gerechten Zugang zu Medikamenten im Wege stehen, nur die Gewinne der Pharmariesen maximieren und Millionen von Menschen sterben lassen. Denn wenn das nicht so wäre, warum sollte die WTO, einschließlich der USA, Europa und Deutschland, beschließen, auf Patente zu verzichten?
Wir sollten uns nicht zurücklehnen, denn dieselben Kräfte streben nun eine Ausweitung des TRIPS Waivers auf alle Therapeutika und Diagnostika an, die für Covid-19-Patienten hilfreich sind. Dies gilt für Therapeutika, die gegen SARS-CoV-2, aber auch gegen andere Viren wirksam sind, und ebenso für Therapeutika, die die Sterblichkeit bei Covid-Patienten generell senken können, aber keineswegs spezifisch für Covid sind. Davon betroffen wären z.B. Medikamente gegen Sepsis oder Lungenödeme, aber auch immunsuppressive oder entzündungshemmende Medikamente, IL-6-Ras etc. Es besteht eine sehr gute Chance, dass der TRIPS Waiver entsprechend erweitert wird.
Cui bono? Sicherlich nicht die Patienten in den Entwicklungsländern, denn der mangelnde Zugang zu Arzneimitteln ist auf eine ungerechte Verteilung zurückzuführen, nicht auf Patente.
Qui nocet? Sicherlich schadet es dem System, das die lebensrettenden Impfstoffe in so kurzer Zeit bereitgestellt hat. Es wird sich auf die Finanzierung kleinerer, innovativer Biotech-Unternehmen auswirken. Es kann auch andere technische Bereiche betreffen. Wenn die Botschaft lautet, dass auf Patente verzichtet werden muss, wenn die Menschheit auf eine bestimmte Technologie angewiesen ist, was ist dann beispielsweise mit Technologien im Zusammenhang mit dem Klimaschutz und alternativen Energien?
Öffentliche Diskussionen führen zu öffentlicher Wahrnehmung und damit zu politischen Entscheidungen. Wenn uns politische Entscheidungen nicht gefallen, müssen wir unsere „IP-Blase“ verlassen und uns an öffentlichen Diskussionen beteiligen.