Erste Sachentscheidungen des UPC-Berufungsgerichts: Seoul Viosys und Philips v. Belkin
Die Urteile geben erste rechtssichere Leitlinien in Fragen der Offenbarung, Auslegung, Verletzung und Geschäftsführerhaftung.
1. Kontext und Bedeutung
Im Oktober 2025 hat das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (Court of Appeal, kurz: CoA) seine lange erwarteten ersten Sachentscheidungen veröffentlicht: (i) die Entscheidung Seoul Viosys (UPC_CoA_764/2024 & 774/2024) zur unzulässigen Erweiterung sowie (ii) die Entscheidung Philips v. Belkin (UPC_CoA_534/2024, 19/2025, 683/2024) zu Fragen der Verletzung, Anspruchsauslegung und Geschäftsführerhaftung. Diese Urteile markieren – gut zwei Jahre nach dem Start des UPC-Systems – den Beginn einer Vereinheitlichung des materiellen Patentrechts im Rahmen des EPGÜ.
2. Die Entscheidung Seoul Viosys (CoA 764/2024 & 774/2024)
In seiner ersten Sachentscheidung befasste sich das Berufungsgericht mit der Frage, ob die erteilten Ansprüche über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgingen. Der Beklagte hatte im Verletzungsverfahren Widerklage auf Nichtigerklärung wegen unzulässiger Erweiterung erhoben. Während das erstinstanzliche Gericht das Patent aufrechterhalten hatte, hob das Berufungsgericht die Entscheidung auf und widerrief das Patent.
Das Gericht bestätigte, dass der maßgebliche Prüfungsmaßstab für eine unzulässige Erweiterung gemäß Artikel 65(2) EPGÜ und Artikel 138(1)(c) EPÜ dem sogenannten „Goldstandard“ des EPA entspricht: Der Fachmann muss den beanspruchten Gegenstand unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Offenbarung ableiten können, wobei sein allgemeines Fachwissen zu berücksichtigen ist. Eine implizite Offenbarung genügt nur, wenn sie eine zwingende Folge der ausdrücklich offenbarten Merkmale darstellt.
Besondere Bedeutung maß das Gericht der Frage der Teilanmeldungen bei. Es stellte klar, dass die Offenbarung nicht nur in der Teilanmeldung selbst, sondern auch in jeder früheren Anmeldung der Anmeldekette enthalten sein muss. Das Streichen von Merkmalen oder die Kombination von Elementen aus unterschiedlichen Ausführungsformen kann eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darstellen, sofern die verbleibende Kombination nicht ihrerseits eindeutig als allgemeine Lehre offenbart ist. Nach dieser Prüfung stellte das Gericht eine unzulässige Erweiterung fest und widerrief das Patent.
Erste Kommentatoren heben hervor, dass die Entscheidung inhaltlich eng an die EPA-Rechtsprechung anknüpft, zugleich aber eine eigenständige Anwendung im Rahmen des EPGÜ vornimmt. Damit etabliert das Berufungsgericht eine strenge Offenbarungsprüfung als Maßstab für die Gültigkeit von Patenten vor dem UPC.
3. Die Entscheidung Philips v. Belkin (CoA 534/2024, 19/2025 & 683/2024)
In seiner zweiten Sachentscheidung befasste sich das Berufungsgericht mit mehreren Berufungen aus einem Verletzungsverfahren vor der Münchener Lokalkammer. Philips hatte das europäische Patent EP 2 867 997 gegen verschiedene Belkin-Gesellschaften und deren Geschäftsführer geltend gemacht. Das erstinstanzliche Gericht hatte eine Verletzung bejaht und Unterlassungs-, Rückruf- und Vernichtungsanordnungen erlassen. Das Berufungsgericht nutzte den Fall, um zentrale Fragen des Verletzungsrechts zu klären – insbesondere zur Anspruchsauslegung, zum Begriff des „Anbietens“ und zur persönlichen Haftung von Geschäftsführern.
4. Anspruchsauslegung
Das Gericht bestätigte einen funktionsorientierten Ansatz bei der Auslegung von Patentansprüchen. Streitentscheidend war die Frage, ob ein Sender, der ausschließlich ein Signal der „Annahme“ übermittelt, eine Anspruchsformulierung erfüllt, die auf „Annahme oder Ablehnung“ Bezug nimmt. Das Berufungsgericht bejahte dies, da der technische Zweck – die Mitteilung des Verhandlungsergebnisses – erreicht werde. Maßgeblich sei die Sicht des Fachmanns anhand der Beschreibung; Erklärungen des Anmelders im Prüfungsverfahren könnten lediglich unterstützend herangezogen werden, begründeten aber keine eigenständige Beschränkung.
Damit stellte das Gericht klar, dass die objektiv-technische Bedeutung aus der Beschreibung entscheidend bleibt und die Erteilungsakte keine vorrangige Auslegungsquelle darstellt. Diese (sicherlich auch so erwartbare) Linie schafft weitere Rechtssicherheit für künftige Auslegungsfragen vor dem UPC.
5. Das „Anbieten“ als Verletzungshandlung nach Artikel 25(a) EPGÜ
Das Berufungsgericht legte den Begriff des „Anbietens“ wirtschaftlich und autonom aus. Ein rechtlich bindendes Vertragsangebot sei nicht erforderlich; auch eine bloße Präsentation oder Einladung zur Abgabe eines Angebots könne eine Verletzungshandlung darstellen, sofern sie potenziellen Kunden den Erwerb ermögliche. Damit können auch Online-Produktlisten, Kataloge oder Werbung eine Verletzung begründen, selbst wenn noch kein Verkauf erfolgt ist.
Diese weitgehend dem deutschen Recht entsprechende, weite Auslegung trägt der Realität moderner Vermarktungsformen Rechnung. Unternehmen müssen ihre Marketingaktivitäten im UPC-Raum daher auch weiterhin sorgfältig prüfen, um Verletzungsrisiken zu vermeiden.
6. Geschäftsführerhaftung
Ein zentraler Punkt des Belkin-Urteils war die persönliche Haftung von Geschäftsführern. Das Gericht stellte klar, dass die bloße Organstellung noch keine Haftung begründet. Eine persönliche Haftung besteht nur, wenn der Geschäftsführer das Unternehmen bewusst als Instrument der Verletzung einsetzt oder – in Kenntnis der Verletzung und ihrer Rechtswidrigkeit – zumutbare Maßnahmen zur Verhinderung unterlässt. Dies dürfte im Ergebnis zu einer gegenüber der Rechtslage in Deutschland tendenziell nicht ganz so strengen, gleichwohl aber ernstzunehmenden Geschäftsführerhaftung führen.
Das Berufungsgericht betonte zudem, dass die Einholung fundierter Rechtsberatung – etwa einer Nichtverletzungs- oder FTO-Analyse – einen Haftungsschutz bieten kann, solange keine erstinstanzliche Entscheidung die Verletzung feststellt. Da Philips keine vorsätzliche oder bewusste Beteiligung der Belkin-Geschäftsführer nachweisen konnte, hob das Gericht die gegen sie erlassenen Unterlassungsanordnungen auf.
7. Verhältnis zu nationalen Entscheidungen
Belkin berief sich auf eine frühere deutsche Entscheidung, in der eine Verletzungsklage von Philips abgewiesen worden war. Das Berufungsgericht wies dieses Argument wenig überraschend zurück: Die Rechtskraft nationaler Urteile erstreckt sich nur auf den Tenor innerhalb des jeweiligen Staatsgebiets und zwischen denselben Parteien. Die Begründung und Auslegung eines nationalen Gerichts binden das UPC nicht, das gemäß Artikel 34 und 65 EPGÜ über eine eigenständige Zuständigkeit verfügt.
8. Fazit
Die ersten Sachentscheidungen des UPC-Berufungsgerichts – Seoul Viosys und Philips v. Belkin – bieten inhaltlich wenig Überraschungen, markieren aber dennoch einen Meilenstein in der Entwicklung des europäischen Patentprozessrechts. Sie schaffen erste Rechtssicherheit in Fragen der Offenbarung, Auslegung, Verletzung und Geschäftsführerhaftung. Auf weitere Entscheidungen des CoA in den kommenden Wochen und Monaten darf mit Spannung geschaut werden.
