Das Bundesverfassungsgericht stärkt weiter die Waffengleichheit im Verfügungsverfahren
Rechtliches Gehör für beide Seiten ist ein zentraler Aspekt der Waffengleichheit vor Gericht. Es entsprach jahrzehntelang geübter Praxis, dass Antragsgegner in einem Verfügungsverfahren erst auf Widerspruch in der mündlichen Verhandlung angehört wurden, wenn die Einstweilige Verfügung also schon in der Welt gewesen ist – und beachtet werden musste. Dieser Praxis hat das Bundesverfassungsgericht bereits im September 2018 einen ersten Riegel (1 BvR 1783/17) vorgeschoben. Es müsse vor einer stattgebenden Entscheidung angehört werden. Geeignet dafür ist zum Beispiel die außergerichtliche Abmahnung durch den Antragsteller oder die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor Erlass der Verfügung.
In einer ganz aktuellen Entscheidung aus Juni 2020 entwickelt das Bundesverfassungsgericht einen zweiten Riegel (1 BvR 1246/20). Wird abgemahnt, der gerichtliche Verfügungsantrag dann aber erweitert oder auf andere rechtliche Gesichtspunkte gestützt, müsse erneut vor Erlass einer stattgebenden Entscheidung angehört werden.
Die Möglichkeit, in dringenden Fällen nach § 937 Abs. 2 ZPO auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten, berechtige nicht dazu, den Antragsgegner bis zum Erlass der Verfügung aus dem Verfahren herauszuhalten. Selbst in dringlichen Fällen sei es für das Gericht möglich, zum Hörer zu greifen oder sogar per Email mit dem Antragsgegner zu kommunizieren.
Der Gegner ist in das Verfahren gleichberechtigt einzubeziehen. Geheimverfahren sind nicht akzeptabel. Nachträgliche Verfahrensrechte heilen Verstöße vor Erlass der Verfügung nicht.
Das Bundesverfassungsgericht gewährt nicht nur den Riegel, sondern sozusagen auch gleich das Schloss für den benachteiligten Antragsgegner, Gericht und Antragsteller einzuhegen: die unmittelbare Verfassungsbeschwerde gegen den grundrechtswidrigen Beschluss zum Erlass der einstweiligen Verfügung! Und zwar ohne, dass vorab etwa beim Landgericht die Einstellung der Zwangsvollstreckung oder ein Feststellungsurteil erwirkt werden müsste.
Es empfiehlt sich, Gegner vor gerichtlichen Verfahren umfassend anzuhören oder sehr gute Gründe dafür zu haben, es nicht zu tun. Die Möglichkeiten, „Überraschungstreffer“ zu landen, sind weiter deutlich beschränkt worden.