B&B Partner erwirken patentinhaberfreundliche Entscheidungen der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts
Regel 80 EPÜ – mehrere unabhängige Ansprüche zur Verteidigung eines Patents im Einspruchsverfahren
Innerhalb kurzer Zeit haben die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts parallel zwei Entscheidungen erlassen, die von Partnern von BOEHMERT & BOEHMERT zu Gunsten unserer Mandanten erwirkt wurden. Beide Entscheidungen wurden am 14.10.2024 veröffentlicht und in beiden Fällen geht es um die interessante Rechtsfrage, ob R. 80 EPÜ der beschränkten Verteidigung eines europäischen Patents im Einspruchsverfahren mit einem Anspruchssatz entgegensteht, der statt eines unabhängigen Anspruchs des erteilten Patents mehrere unabhängige Ansprüche enthält, die unterschiedliche Beschränkungen des unabhängigen Anspruchs des erteilten Patents darstellen.
Beschwerdesache T0123/22 – mehrere unabhängige Ansprüche mit Beschränkung durch verschiedene Merkmale aus der Beschreibung
In der Beschwerdesache T0123/22 gelang es Patentanwalt Dr. Daniel Herrmann, die erstinstanzliche Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben, wonach das Europäische Patent EP 2822613 B1 wegen R. 80 EPÜ widerrufen wurde. Die Einspruchsabteilunge hatte zu Unrecht angenommen, dass R. 80 EPÜ einer Verteidigung des Patents in beschränkter Fassung durch Ersetzung eines unabhängigen Anspruchs der erteilten Fassung durch mehrere unabhängige Ansprüche, die jeweils unterschiedliche Merkmale aus der Beschreibung zur Einschränkung enthalten, entgegenstünde. Diese Entscheidung wurde durch die Beschwerdekammer in einer Entscheidung mit Orientierungssatz aufgehoben und an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.
Die Beschwerdekammer stellte zunächst klar, dass R. 80 EPÜ eine rein materiellrechtliche Norm ist, die die Gewährbarkeit einer Änderung im Einspruchsverfahren betrifft. Für die Beurteilung des Erfordernisses von R. 80 EPU sei gemäß der Kammer alleine maßgeblich, ob die vorgenommene Änderung durch einen Einspruchsgrund veranlasst ist. Hierbei sei zu prüfen, ob die Änderung als ernsthafter Versuch zu werten ist, einem Einspruchsgrund zu begegnen. Dabei bezog sich die Kammer auf die vorgebrachte Entscheidung T0750/11. Die Umstände des Einzelfalls seien dabei zu berücksichtigen. Die Kammer betonte im Orientierungssatz und den Gründen, dass sich aus R. 80 EPÜ keine allgemeinen Vorgaben ergeben, in welcher Form ein Patentinhaber Ansprüche ändern darf und insbesondere sei es für R. 80 EPÜ unerheblich ist, ob die in einen angegriffenen Anspruch zusätzlich aufgenommenen Merkmale aus abhängigen Ansprüchen oder aus der Beschreibung stammen. Im vorliegenden Fall seien alle drei unabhängigen Ansprüche im Verhältnis zum angegriffenen und nicht weiterverfolgten unabhängigen Anspruch der erteilten Fassung eingeschränkt worden und dienten daher im jeweiligen Anspruch – und damit auch insgesamt – augenscheinlich der Überwindung des Einspruchsgrundes. Daher sei im vorliegenden Fall R.80 EPÜ erfüllt. Es sei laut Kammer grundsätzlich legitim mehrere Teilbereiche gleichzeitig abzudecken, die nach Meinung der Patentinhaberin vom Einspruchsgrund nicht betroffen sind. Der Zweck der R 80 EPÜ bestünde nämlich nicht darin, den Patentinhaber daran zu hindern das Patent unter Berücksichtigung der Einspruchsgründe so breit wie möglich aufrechtzuerhalten.
Beschwerdesache T1191/22 – mehrere unabhängige Ansprüche mit Beschränkung durch verschiedene abhängige Ansprüche
In der Beschwerdesache T1191/22 erreicht Patentanwalt Felix Hermann eine Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung, die einen Hilfsantrag als gegen R. 80 EPÜ verstoßend abgelehnt hatte, da er neben einem geänderten Patentanspruch 1 weitere auf erteilten, abhängigen Patentansprüchen basierende weitere unabhängige Patentansprüche 12 bis 15 aufwies.
Übereinstimmend mit der Entscheidung T0123/22 korrigierte die Beschwerdekammer die Einspruchsabteilung dahingehend, dass R. 80 EPÜ eine materiellrechtliche Norm und keine verfahrensrechtliche Vorschrift ist. Mit Verweis auf die frühere EntscheidungT0937/00 urteilte die Kammer, dass die Verteidigung des Patents mit mehreren parallelen unabhängigen Ansprüchen grundsätzlich zulässig ist und nicht gegen R. 80 EPÜ verstößt, wenn die Formulierung neuer unabhängigen Ansprüche im Einspruchsverfahren darauf abzielt, geltend gemachte Einspruchsgründe zu überwinden.
Ferner stellte die Beschwerdekammer fest, dass die Zulässigkeit eines Antrags betreffende verfahrensrechtliche Aspekte, wie die mangelnde Konvergenz der unabhängigen Patentansprüche oder die Auswirkungen des Hilfsantrags auf die Verfahrensökonomie, für die Beurteilung, ob ein Antrag nach R. 80 EPÜ gewährbar ist, nicht relevant sind. Die Beschwerdekammer entscheid, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent auf der Grundlage des erstinstanzlich nicht-zugelassenen Hilfsantrags aufrechtzuerhalten.
Erweiterter Handlungsspielraum für Patentinhaber
Die beiden Entscheidungen T0123/22 und T1191/22 betonen beide den materiellrechtlichen Aspekt der R. 80 EPÜ und grenzen diesen von verfahrensrechtlichen Fragen ab, die die Zulässigkeit eines Antrags betreffen. Beide Entscheidungen, die von zwei unterschiedlichen Beschwerdekammern erlassen wurden, bestätigen ferner den Grundsatz, dass R. 80 EPÜ einer Ersetzung eines unabhängigen Anspruchs eines erteilten Patents durch mehrere geänderte unabhängige Ansprüchen zur beschränkten Verteidigung des Patents nicht entgegensteht, solange die Änderungen als ernsthafter Versuch zu werten sind, die geltend gemachten Einspruchsgründe zu überwinden. Damit wird Patentinhabern im Hinblick auf R. 80 EPÜ grundsätzlich das Recht anerkannt, mehrere Teilbereiche des ursprünglichen Schutzgegenstands gleichzeitig, also in ein und demselben Antrag, abzudecken, die aus Sicht der Patentinhaber von den im Einspruchsverfahren geltend gemachten Einspruchsgründen nicht betroffen sind.