Der Bundesgerichtshof entscheidet zur Störerhaftung des Access-Providers
Der Tenor der beiden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in den Sachen I ZR 3/14 und I ZR 174/14 ist von lapidarer Kürze: „Die Revision (…) wird zurückgewiesen.“ Doch der erste Eindruck täuscht. Selten dürften Revisionen mit so viel Gewinn verloren worden sein, denn ungeachtet der im Ergebnis zurückgewiesenen Revision lesen sich die Urteilsgründe bis zu Rn. 81 (von 91 Randnummern insgesamt), als hätten die Revisionsführer gewonnen.
Beide Streitsachen waren Musterprozesse, in denen es um die (Störer-) Haftung von Access-Providern (ISPs) für fremde urheberrechtsverletzende Inhalte ging – konkret: die Möglichkeiten und Grenzen von Zugangssperren zu rechtsverletzenden Sites. Beklagte waren jeweils prominente Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen.
Den ersten der beiden Rechtsstreite hatte die Verwertungsgesellschaft der Musikurheber und Musikverleger GEMA, den zweiten, der unter dem offiziellen Titel Störerhaftung des Access-Providers in die Nachschlagewerke und Entscheidungssammlungen des Bundesgerichtshofes aufgenommen werden wird, die führenden Unternehmen der deutschen Musikindustrie geführt, die nachfolgend im Mittelpunkt stehen soll. Hier ging es um die Zugangssperre zum illegalen Dienst „Goldesel.to“.
Die Auseinandersetzungen spielten in einem politisch aufgeladenen Umfeld. Nach Art. 8 Abs. 3 der bereits im Jahre 2001 in Kraft getretenen Info-Richtlinie (2001/29/EG) haben nämlich die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass die Inhaber nach der Richtlinie zu schützender Rechte gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung dieser Rechte genutzt werden. Dem lag die Erwägung zugrunde, dass die Vermittler oftmals am besten in der Lage sind, Urheberrechtsverstößen über das Internet ein Ende zu setzen (so Erwägungsgrund 59 der Richtlinie).
Bei der Umsetzung der Info-Richtlinie waren die Bundesregierung und Gesetzgeber davon ausgegangen, dass es keiner Umsetzung durch formelles Gesetz bedürfte, weil – so die Bundesregierung in einer Gegenäußerung vom 6. November 2002 – „auch der Gesetzgeber (…) ausweislich der Gesetzesbegründung zum Gesetz über die rechtlichen Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr (EGG) davon ausgegangen (ist), dass „Provider“ bei Urheberrechtsverletzungen unter den genannten Voraussetzungen grundsätzlich auf Unterlassung in Anspruch genommen werden können.“ Dieser Verzicht auf Umsetzung durch formelles Gesetz führte freilich dazu, dass seit Inkrafttreten der Urheberrechtsreform von 2003 volle zwölf Jahre Unsicherheit darüber herrschte, ob diese Annahme gerechtfertigt war.
Wie sich nun zeigt: Sie war es, zumindest in wesentlichen Zügen. Der Bundesgerichtshof schreibt das richterrechtliche Instrument der Störerhaftung für den Bereich der Sperrverfügungen gegenüber Access-Providern fort.
In Rn. 34 begründet er zunächst, wo der von ihm in der Entscheidung ausgeschöpfte Entscheidungspielraum verankert ist. Es heißt dort: „Zwingend ist im vorliegenden Fall die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/EG sowie in Art. 11 Satz 3 der Richtlinie 2004/48/EG zum Ausdruck kommende rechtliche Vorgabe, im Recht der Mitgliedsstaaten die Möglichkeit einer Anordnung gegen Vermittler bereitzustellen (…). Ein Gestaltungsspielraum verbleibt den Mitgliedsstaaten jedoch, soweit sie (…) die Modalitäten der (…) Anordnung gegen Vermittler festlegen können (…). Besteht ein solcher Gestaltungsspielraum, verbleibt es bei der Anwendbarkeit auch der deutschen Grundrechte.“ An diese Ausführungen knüpft der Senat weiter unten in der Entscheidung an, wo es in Rn. 73 heißt: „Vorliegend ist nicht das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, sondern eine zivilrechtliche Haftungsfrage zwischen Rechteinhabern und Telekommunikationsunternehmen, also zwischen gleichgeordneten Grundrechtsträgern betroffen. Im Streit zwischen Privaten müssen die Gerichte aber selbst bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblichen allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten (…).“
Der Bundesgerichtshof hat es sich im Folgenden nicht nehmen lassen, den Fall bis ins Detail durchzuprüfen und auf diesem Weg eine Fülle wichtiger Streitfragen – die teils seit Jahren offen waren – im Sinne der Rechteinhaber geklärt, etwa zur sekundären Beweislast des Providers hinsichtlich der wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten (Rn. 43), zu den Einwänden gegen die Effizienz von Sperrmaßnahmen (Rn. 47-59) oder zur Vereinbarkeit von Sperrmaßnahmen mit dem Fernmeldegeheimnis (Rn. 60 ff.). Ein Vorbehalt eines formellen Gesetzes bestehe nicht (Rn. 74 f.). Auch datenschutzrechtliche Bedenken stünden einer Sperre nicht entgegen (Rn. 76 ff.).
Die Revision wurde letztlich zurückgewiesen, weil die Klägerinnen nicht gegen den Betreiber des illegalen Dienstes „Goldesel.to“ vorgegangen waren (Rn. 81, 87).
Der Bundesgerichtshof räumt zwar ein, die Störerhaftung sei gegenüber der Inanspruchnahme des Täters im Grundsatz nicht subsidiär (Rn. 82) und rekurriert als Beispiel für ein zulässiges Vorgehen gegen einen Access-Provider trotz Greifbarkeit der unmittelbaren Verletzer auf die Entscheidung des BGH GRUR 2007, 724, Rn. 13 – Jugendgefährdende Medien bei eBay.
Mit dieser Konstellation sei allerdings der vorliegende Fall nicht vergleichbar, weil hier lediglich der einzelne Betreiber der beanstandeten Webseite oder der einzelne Host-Provider hätte in Anspruch genommen werden müssen.
Der BGH räumt ein, dass „Goldesel“ anonym aufgetreten ist und daher die Betreiber nicht bekannt waren. Die Klägerinnen hätten allerdings nicht vorgetragen, weitere zumutbare Maßnahmen zur Aufdeckung der Identität des Betreibers der Webseiten unternommen zu haben. Hier sei insbesondere die Einschaltung der staatlichen Ermittlungsbehörden im Wege der Strafanzeige oder auch die Vornahme privater Ermittlungen etwa durch einen Detektiv oder andere Unternehmen, die Ermittlungen in Zusammenhang mit rechtswidrigen Angeboten im Internet durchführen, in Betracht gekommen (Rn. 87).
Wie diese Hinweise des Bundesgerichtshofes zu deuten sind, wird noch näher zu analysieren sein, besonders weil diese Anforderungen Rechteinhaber für die Zeit schutzlos stellen, während die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft laufen. Selbst durch Einschaltung privater Ermittlungsdienstleister könnten Rechteinhaber nicht vermeiden, dass erhebliche zeitliche Schutzlücken entstehen.
Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass der Bundesgerichthof in seiner Entscheidung Störerhaftung des Access-Providers eine ganze Fülle von Rechtsfragen geklärt und ganz nebenbei dafür gesorgt hat, dass Deutschland kein Vertragsverletzungsverfahren der EU (wegen Nicht-Umsetzung von Art. 8 Abs. 3 Info-RL) mehr zu befürchten hat.
Dr. Schaefer hatte in der besprochenen Sache die Klägerinnen instanzgerichtlich selbst und bei der Revision beratend vertreten.