Die Große Beschwerdekammer des EPA veröffentlicht Entscheidung G 1/19
Die Große Beschwerdekammer hat ihre Entscheidung G 1/19 veröffentlicht, die sich mit der Patentierung von computerimplementierten Simulationen und Entwürfen befasst. Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Schluss, dass computerimplementierte numerische Simulationen und Entwürfe eines Systems oder Verfahrens nicht anders zu behandeln sind als andere computerimplementierte Erfindungen, und weist damit „Extrempositionen“, wie etwa in der Vorlageentscheidung T 0489/14, zurück.
Hintergrund
Im Jahr 2019 war die Beschwerdekammer des EPA, die die Vorlageentscheidung T 0489/14 veröffentlichte, geneigt, den Feststellungen der früheren – und bis zu diesem Zeitpunkt akzeptierten – Entscheidung T 1227/05 zu widersprechen, in der festgestellt wurde, dass die Beschränkung einer beanspruchten Erfindung auf eine computerimplementierte Simulation einer elektronischen Schaltung, die dem 1/f-Rauschen unterliegt, als hinreichend definierter technischer Zweck für ein computerimplementiertes Verfahren gilt, das funktional auf diesen Zweck beschränkt ist, wodurch der Simulation technischer Charakter verliehen wird. In der Vorlageentscheidung T 0489/14 wollte die Kammer strengere Mindestanforderungen an die Anerkennung eines technischen Charakters einer Simulation (oder eines Entwurfsverfahrens) stellen. Nach Ansicht der Kammer erfordert eine technische Wirkung zumindest eine direkte Verbindung mit der physischen Realität, wie z. B. eine Veränderung oder eine Messung einer physischen Einheit, was deutlich von den Feststellungen in T 1227/05 abgewichen hätte. Daher legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer die folgenden Fragen vor:
Frage 1: Kann bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit die computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens ein technisches Problem lösen, indem sie eine technische Wirkung erzeugt, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, wenn die computerimplementierte Simulation als solche beansprucht wird?
Frage 2: Wenn die erste Frage mit „Ja“ beantwortet wird, was sind die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung, ob eine als solche beanspruchte computerimplementierte Simulation ein technisches Problem löst? Ist es insbesondere eine hinreichende Bedingung, dass die Simulation zumindest teilweise auf technischen Grundsätzen beruht, die dem simulierten System oder Prozess zugrunde liegen?
Frage 3: Wie lauten die Antworten auf die erste und die zweite Frage, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsprozesses, insbesondere zur Verifizierung eines Entwurfs, beansprucht wird?
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer
Die Große Beschwerdekammer hat die Frage 1 zugelassen und sie so ausgelegt, dass sie danach fragt, ob bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit die computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens ein technisches Problem dadurch lösen kann, dass sie einen weiteren technischen Effekt hervorbringt, der über die normale physikalische Wechselwirkung zwischen einem Programm und einem Computer, auf dem die Simulation abläuft, hinausgeht, wenn die computerimplementierte Simulation als solche beansprucht wird (G 1/19, siehe z. B. Gründe 47 und 50). Nur der zweite Teil der Frage 2 wurde zugelassen, d.h. die Kammer beantwortete nur die Frage, ob es eine hinreichende Bedingung ist, dass die Simulation zumindest teilweise auf den wissenschaftlichen (z. B. mathematischen und physikalischen) Prinzipien beruht, die innerhalb der durch das (natürliche oder technische) System oder Verfahren gesetzten Grenzen angewandt werden („Frage 2B“ von G 1/19, siehe z. B. Gründe 47 und 53). Auch die Frage 3 wurde zugelassen und entsprechend den Fragen 1 und 2 interpretiert.
Die Antworten auf die zugelassenen Vorlagefragen der Großen Beschwerdekammer lauten wie folgt:
1. Eine computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens, die als solche beansprucht wird, kann für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit einem technischen Problem dienen, indem sie eine technische Wirkung erzeugt, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht.
2. Für diese Beurteilung ist es keine hinreichende Bedingung, dass die Simulation ganz oder teilweise auf technischen Prinzipien beruht, die dem simulierten System oder Prozess zugrunde liegen.
3. Die Antworten auf die erste und die zweite Frage unterscheiden sich nicht, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsprozesses, insbesondere zur Verifizierung eines Entwurfs, beansprucht wird.
Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Schluss, dass computerimplementierte numerische Simulationen und Entwürfe eines Systems oder Verfahrens nicht anders behandelt werden sollten als andere computerimplementierte Erfindungen, und weist damit die „Extremposition“ in der Vorlageentscheidung T 0489/14 zurück. Während die Große Beschwerdekammer die Feststellungen in T 1227/05 nicht verwarf, wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass die Feststellungen in T 1227/05 aufgrund des spezifischen Charakters des Falles, der T 1227/05 zugrunde lag, nicht allgemein anwendbar seien und nahm damit dieser Entscheidung den Leuchtturmcharakter.
Die Große Beschwerdekammer hält den „de-facto-Standard“des EPAs für die Beurteilung von Erfindungen mit einer Mischung aus technischen und „nicht-technischen“ Merkmalen, wie er in den Leitsätzen der Entscheidung T 641/00 definiert ist (COMVIK-Ansatz), für die Beurteilung von computerimplementierten Simulationen für geeignet. Nach dem COMVIK-Ansatz ist für die Beurteilung, welche Merkmale einer Simulation eines Systems oder Prozesses technische Merkmale und damit relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sind, entscheidend, ob die Simulation oder der Entwurfsprozess zur Lösung eines technischen Problems beiträgt, indem die Simulation oder der Entwurfsprozess selbst einen technischen Effekt erzeugt. Daher sind die für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevanten technischen Erwägungen nur diejenigen, die sich auf die Erfindung, d.h. auf die Simulation der Vorrichtung oder des Verfahrens, und nicht auf das simulierte System oder Verfahren beziehen (G 1/19, siehe z. B. Grund 125).
Unter Bezugnahme auf G 3/08 erkennt die Große Beschwerdekammer an, dass eine Simulation notwendigerweise auf den Prinzipien beruht, die dem simulierten System oder Prozess zugrunde liegen, und dass technische Erwägungen, die mit dem zu simulierenden System oder Prozess verbunden sind, typischerweise die Grundlage für gedankliche Tätigkeiten bei der Erstellung des Modells der technischen Vorrichtung oder des Prozesses bilden, der in der Simulation verwendet wird. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die gedanklichen Tätigkeiten bei der Erstellung des der Simulation zugrunde liegenden Modells (und der Gleichungen/Algorithmen) keinen technischen Charakter haben, weil die technischen Überlegungen, die bei der Erstellung des der Simulation zugrunde liegenden Modells angestellt werden, normalerweise nicht zu einem technischen Effekt führen, der durch die Ausführung der Simulation erzielt wird (G 1/19, siehe z. B. Gründe 106-112, 121, 137, 141). Würden technische Erwägungen, die mit dem zu simulierenden System oder Verfahren verbunden sind, ausreichen, um der Simulation technischen Charakter im Sinne der Frage 2 zu verleihen, so würden computerimplementierte Simulationen eine privilegierte Stellung innerhalb der Gruppe der computerimplementierten Erfindungen einnehmen, ohne dass es für eine solche Privilegierung eine Rechtsgrundlage gäbe (G 1/19, siehe z. B. Grund 141).
In diesem Sinne stellt die Große Beschwerdekammer auch fest, dass eine unmittelbare Verbindung mit der (äußeren) physikalischen Realität, wie sie in T 0489/14 gefordert wird, keine Voraussetzung oder notwendige Bedingung für die Anerkennung eines technischen Charakters der beanspruchten Merkmale im Rahmen eines Simulations- oder Entwurfsverfahrens ist, obwohl eine solche Verbindung in den meisten Fällen für die Feststellung der Technizität dieser Merkmale ausreichen dürfte (G 1/19, siehe z. B. Gründe 88, 139, 85). Dies liegt daran, dass eine technische Wirkung auch innerhalb des computerimplementierten Verfahrens selbst auftreten kann. Eine Simulation ohne einen Input oder Output, der einen direkten Bezug zur physikalischen Realität hat, kann dennoch ein technisches Problem lösen, z. B. durch Anpassung der Simulationssoftware an die interne Funktionsweise des Computersystems oder Netzwerks (z. B. um eine bessere Ausnutzung von Speicherkapazität oder Bandbreite zu erreichen, G 1/19, siehe z. B. Gründe 85, 115-116). Darüber hinaus können potentielle technische Wirkungen, d.h. Wirkungen, die nur in Kombination mit nicht beanspruchten Merkmalen erzielt werden, im Rahmen der Beurteilung des technischen Charakters der beanspruchten Merkmale berücksichtigt werden. Diese potenziellen technischen Wirkungen sind von virtuellen oder „berechneten“ Wirkungen und direkten technischen Wirkungen auf die physische Realität zu unterscheiden, wobei unter virtuellen oder „berechneten“ Wirkungen technische Wirkungen verstanden werden, die nicht durch eine Wechselwirkung mit der physischen Realität erzielt werden, sondern durch Berechnungen, die „reale“ technische Wirkungen oder physischen Einheiten weitgehend abbilden. Solche potenziellen technischen Wirkungen können z. B. Daten oder Datenstrukturen zugeschrieben werden, die speziell für die Zwecke ihrer beabsichtigten technischen Verwendung angepasst sind. In solchen Fällen könnte entweder die technische Wirkung, die sich aus der bestimmungsgemäßen Verwendung der Daten ergeben würde, als durch den Anspruch impliziert angesehen werden. Alternativ könnte davon ausgegangen werden, dass sich die bestimmungsgemäße Verwendung der Daten im Wesentlichen über den gesamten Umfang des beanspruchten Datenverarbeitungsverfahrens erstreckt (G 1/19, siehe z. B. Gründe 89-97).
Schlussfolgerungen
Die Feststellung der Großen Beschwerdekammer, dass sich computerimplementierte Simulationen und Entwurfsprozesse nicht von anderen computerimplementierten Prozessen unterscheiden und die Anwendung und strikte Anwendung der Grundsätze des COMVIK-Ansatzes manifestieren einmal mehr die etablierte Rechtsprechung des EPAs zu computerimplementierten Erfindungen. Während die gute Nachricht für die Anmelder darin besteht, dass die Große Beschwerdekammer dem strengen Vorschlag von T 0489/14 nicht gefolgt ist, hat die Große Beschwerdekammer die insgesamt strenge Praxis der Bewertung computerimplementierter Erfindungen nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPAs auch für computerimplementierte Simulationen und Entwurfsverfahren bestätigt. Da Simulations- und Entwurfsprozesse häufig auf herkömmlicher Computerhardware ablaufen, wird es für Anmelder noch schwieriger, den Simulations- oder Entwurfsprozess unabhängig von einem bestimmten und spezifischen technischen Input oder Output oder einer (impliziten) Verwendung der Ergebnisse des Simulations- oder Entwurfsprozesses zu beanspruchen und zu schützen, z. B. zur Steuerung einer Maschine oder zur Herstellung eines Produkts. Dies bedeutet auch, dass bei der Ausarbeitung von Anmeldungen in diesem Bereich sorgfältig abgewogen werden muss, ob der technische Charakter der Erfindung auf einem technischen Effekt beruht, der durch die Simulations- oder Entwurfssoftware selbst erzielt wird, wenn sie auf dem Computer ausgeführt wird oder nicht. Darüber hinaus führt die Genauigkeit des Simulations- oder Entwurfsverfahrens zwar in der Regel nicht zu einer Anerkennung des technischen Charakters der Simulation, jedoch kann die Genauigkeit des Simulations- oder Entwurfsverfahrens bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) und/oder der ausreichenden Offenbarung der Erfindung (Art. 83 EPÜ) eine Rolle spielen. Dies erfordert von den Anmeldern eine sorgfältige Abwägung der Detailtiefe der Offenbarung des Simulations- und Entwurfsverfahrens und auch der Anzahl der Alternativen, die in der Anmeldung offenbart werden müssen, um den Schutzbereich der Patentansprüche im Sinne des Art. 83 EPÜ über ein einzelnes spezifisches Implementierungsbeispiel hinaus in einer für den Fachmann ausführbaren Art und Weise zu stützen.