Zusammenspiel zwischen Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren im Einheitspatentsystem
Im Einheitspatentsystem ist das Einheitliche Patentgericht (EPG) sowohl für Verletzungs- als auch für Nichtigkeitsklagen zuständig. Unter bestimmten Bedingungen können jedoch ein Verletzungs- und ein paralleles Nichtigkeitsverfahren von verschiedenen Kammern des EPG entschieden werden.
Im Einheitspatentsystem können Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche aus europäischen Patenten durch ein zentralisiertes Verletzungsverfahren vor dem Einheitlichen Patentgericht (EPG) in mehreren EU-Ländern durchgesetzt werden. Als Mittel zur Verteidigung gegen solche Verletzungsklagen stehen verschiedene Rechtsbestandsangriffe gegen das Patent zur Verfügung.
Der Rechtsbestand kann unabhängig davon, ob eine Verletzungsklage anhängig ist, weiterhin durch einen Einspruch gegen das europäische Patent beim Europäischen Patentamt (innerhalb der Einspruchsfrist) angegriffen werden. Ferner kann (auch nach einem durchgeführten Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt) eine nationale Nichtigkeitsklage gegen einen nationalen Teil des europäischen Patents (während der Übergangszeit von sieben Jahren nach Inkrafttreten des Einheitspatentsystems) und eine Nichtigkeitsklage beim EPG gegen das Einheitspatent bzw. die in den Mitgliedsstaaten des Einheitspatentsystems validierten Teile eingereicht werden. Darüber hinaus kann der Rechtsbestand des Einheitspatents nach erfolgter Verletzungsklage vor dem EPG durch eine Nichtigkeitswiderklage angegriffen werden.
Während im deutschen Patentsystem das Trennungsprinzip (engl.: „bifurcation principle“) gilt, wonach über Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen durch unterschiedliche Gerichte entschieden wird, kann in den meisten anderen europäischen Patentsystemen ein und dasselbe Gericht über Verletzung und Rechtsbestand gemeinsam entscheiden. Im Einheitspatentsystem werden diese beiden Prinzipien miteinander kombiniert, da einerseits das EPG sowohl für Verletzungs- als auch für Nichtigkeitsklagen zuständig ist, jedoch andererseits ein Verletzungs- und ein paralleles Nichtigkeitsverfahren unter bestimmten Bedingungen von verschiedenen Kammern des EPG entschieden werden. Die Lokal- oder Regionalkammer, bei der die Verletzungsklage anhängig ist, kann nämlich nach Anhörung der Parteien nach eigenem Ermessen beschließen:
a) sowohl die Verletzungsklage als auch die Nichtigkeitswiderklage unter Hinzuziehung eines technisch qualifizierten Richters zu verhandeln,
b) die Nichtigkeitswiderklage zur Entscheidung an die Zentralkammer zu verweisen und das Verletzungsverfahren auszusetzen oder fortzuführen, oder
c) den gesamten Fall mit Zustimmung der Parteien zur Entscheidung an die Zentralkammer zu verweisen.
In den Fällen a) und c) werden Verletzung und Rechtsbestand somit von dem gleichen Gericht entschieden, während der Fall b) gewissermaßen dem deutschen Trennungsprinzip entspricht. Ob insbesondere die deutschen Lokalkammern, die erwartungsgemäß die meisten Verletzungsklagen in Europa erhalten werden, jedoch die Alternative b) wählen und damit ihnen zugeordnete Kompetenzen abgeben, darf zwar bezweifelt werden, aber dies kann natürlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Die Zustimmung zur Alternative c) wird zudem der Patentinhaber regelmäßig verweigern, da er sich bereits dafür entschieden hat, die Verletzungsklage bei der entsprechenden Lokal- oder Regionalkammer einzureichen, und da eine Verlegung tendenziell mit einer Zeitverzögerung verbunden sein wird.
Komplizierter ist die Situation, wenn eine eigenständige Nichtigkeitsklage bei der Zentralkammer anhängig ist und der Patentinhaber erst nachfolgend eine Verletzungsklage bei einer Lokal- oder Regionalkammer gegen den Kläger im Nichtigkeitsverfahren erhebt, so dass das Nichtigkeitsverfahren und das Verletzungsverfahren zunächst getrennt sind. Der Kläger im Nichtigkeitsverfahren (Beklagte des Verletzungsverfahrens) kann in dieser Situation zusätzlich zu seiner zentralen Nichtigkeitsklage noch eine Nichtigkeitswiderklage erheben. Das zentrale Nichtigkeitsverfahren wird dann grundsätzlich ausgesetzt, und die Lokal- oder Regionalkammer kann wie oben beschrieben nach ihrem Ermessen verfahren, um z. B. gemäß den Möglichkeiten a) oder c) die beiden Verfahren wieder zu verbinden. Bei der Ausübung ihres Ermessens hat die Lokal- oder Regionalkammer jedoch den Stand des zentralen Nichtigkeitsverfahrens zu berücksichtigen.
Schließlich kann ein anhängiges Verletzungsverfahren vor dem EPG auch dann ausgesetzt werden, wenn vor dem Europäischen Patentamt oder einer nationalen Autorität ein Rechtsbestandsverfahren anhängig ist, zumindest dann, wenn die Entscheidung in dem Rechtsbestandsverfahren kurzfristig zu erwarten ist.
Lokal- oder Regionalkammer beschließt nach eigenem Ermessen: | Nichtigkeitswiderklage | Verletzungsklage |
---|---|---|
a) | Fortführen | Fortführen |
b) | An Zentralkammer verweisen | Fortführen |
b) | An Zentralkammer verweisen | Aussetzen |
c) (mit Zustimmung der Parteien) | An Zentralkammer verweisen | An Zentralkammer verweisen |