Am 16. Juli 2021 erließ die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) in der Sache G 1/21 eine Entscheidung. In der Entscheidung stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern auch ohne Zustimmung der Beteiligten in Zeiten des allgemeinen Notstands, der die Möglichkeiten der Beteiligten beeinträchtigt, an einem Verfahren in vor dem EPA in Person teilzunehmen, per Videokonferenz stattfinden können.
Dem Fall G1/21 liegt die Frage der Technische Beschwerdekammer 3.5.02 in ihrer Zwischenentscheidung vom 12. März 2021 in der Sache T1807/15 zugrunde, die wie folgt lautet:
„Ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem Recht auf mündliche Verhandlung nach Artikel 116 (1) EPÜ vereinbar, wenn nicht alle Verfahrensbeteiligten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz zugestimmt haben?“
Die Frage wurde in Reaktion darauf gestellt, dass der Verwaltungsrat dem neuen Artikel 15a der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) 2020 zugestimmt hat, der am 1. April 2021 in Kraft getreten ist und wie folgt lautet:
„Als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung
(1) Die Kammer kann beschließen, die mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 EPÜ auf Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen als Videokonferenz durchzuführen, wenn sie dies für zweckmäßig erachtet.
(2) Wird die mündliche Verhandlung in den Räumlichkeiten des Europäischen Patentamts anberaumt, kann es einem Beteiligten, einem Vertreter oder einer Begleitperson auf Antrag gestattet werden, per Videokonferenz teilzunehmen.
(3) Der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren und mit seinem Einverständnis jedes andere Mitglied der Kammer im jeweiligen Beschwerdeverfahren können an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz mitwirken.“
Artikel 15a VOBK 2020 ermöglicht somit den Beschwerdekammern des EPAs, zu mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz zu laden.
Die von der Großen Beschwerdekammer erlassene Entscheidung lautet wie folgt:
„Während eines allgemeinen Notstands, der die Möglichkeiten der Beteiligten beeinträchtigt, an einer mündlichen Verhandlung in Person in den Räumlichkeiten des EPAs teilzunehmen, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor den Beschwerdekammern in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar, auch wenn nicht alle Verfahrensbeteiligten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz zugestimmt haben.“
Bemerkenswerterweise beschränkt die Große Beschwerdekammer ihre Antwort auf die allgemeiner gehaltene Vorlagefrage auf mündliche Verhandlungen in Zeiten eines allgemeinen Notstands, der die Möglichkeiten der Beteiligten beeinträchtigt, an einer mündlichen Verhandlung in Person in den Räumlichkeiten des EPAs teilzunehmen und auf mündlichen Verhandlung vor den Beschwerdekammern (zweite Instanz). Daher scheint die Große Beschwerdekammer ihre Antwort auf den spezifischen Kontext der Vorlagefrage beschränkt zu haben. In der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer wird weder behandelt, ob die Zustimmung der Beteiligten zur mündlichen Verhandlung per Videokonferenz erforderlich ist, wenn keine allgemeiner Notstands besteht, noch werden mündliche Verhandlungen im Prüfungsverfahren und Einspruchsverfahren vor den erstinstanzlichen Organen des EPAs berücksichtigt.
In der Entscheidung wird klargestellt, dass die Praxis der Beschwerdekammern, mündliche Verhandlungen per Videokonferenz in Beschwerdeangelegenheiten auch ohne Zustimmung der Beteiligten auf der Grundlage des neuen Artikels 15a der VOBK 2020 zu laden, in Zeiten der COVID-19 Pandemie gerechtfertigt ist. Da Artikel 15a der VOBK 2020 den Beschwerdekammern gestattet, mündliche Verhandlungen „auf Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen als Videokonferenz durchzuführen, wenn sie dies für zweckmäßig erachtet“, muss abgewartet werden, ob die noch folgende Begründung der Entscheidung G1/21 zusätzliche Hinweise geben wird, wann eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz zweckmäßig erscheint oder ob Artikel 15a VOBK 2020 grundsätzlich im Einklang mit Artikel 116 EPÜ steht.